Alois Lichtsteiner
Birken und ein Berg
In der Ausstellung Birken und ein Berg werden in drei Sälen des neuen Kunstmuseums Luzern Bilder aus einer Reihe von etwa 60 Werken gezeigt, die Alois Lichtsteiner in den Jahren 1997 – 2001 gemalt hat und deren Motiv Birkenrinde ist. Zusätzlich kommen erste Beispiele einer neuen Werkreihe zur Ausstellung, in der Alois Lichtsteiner noch einmal die Thematik der Birkenbilder aus einer anderen Perspektive und mit einem anderen Motiv bearbeitet, mit dem Motiv eines Berghanges, der teilweise noch mit Schneeflecken bedeckt ist. Zu der Ausstellung erscheint ein Katalog, der diese wichtige neue Auseinandersetzung Alois Lichtsteiners mit Grundfragen der Malerei dokumentiert. Es werden etwa 30 Bilder farbig reproduziert und von einem Text von Ulrich Loock begleitet. Dieser Katalog ist die erste anspruchsvolle Dokumentation des Werkes von Alois Lichtsteiner seit 1993.
In den Arbeiten der Jahre 1997 – 2000 bezieht sich Alois Lichtsteiner auf Birkenrinde als ausserkünstlerisches Substrat seiner Malerei. Insofern sind diese Bilder gegenständlich – sie übernehmen ihre figurativen Aspekte von einer natürlichen Gegebenheit: der in unterschiedlichen Tönen weisslichen Rinde, die im Unterschied zur Borke vieler anderer Bäume horizontal strukturiert ist von schmalen, länglichen, hellen, aber nicht weissen Wachstumsspuren und stellenweise aufgebrochen von schwärzlichen, mit der Zeit krustig verwachsenden Rissen in vertikaler Richtung. Die Malerei der Birkenrinde überzieht das gesamte Bildfeld, so dass ausschliesslich die Rinde gemalt wird: Die Grenzen des Baumstammes kommen nicht ins Bild, wie auch keine Wiedergabe von dessen Rundung aufgenommen wird. Die Malerei übernimmt ein gegenständliches Motiv, doch sie ist nicht naturalistisch.
In der Baumrinde findet Alois Lichtsteiner eine Analogie zur Malerei selbst: Wie die Rinde den hölzernen Stamm der Birke bedeckt, so bedeckt die Malerei die auf einen Rahmen aufgespannte Leinwand – zur Eigenart der natürlichen Vorgabe der Malerei gehört es, dass speziell die Birkenrinde in zusammenhängenden Stücken vom Baumstamm abgelöst werden kann. Von sogenannten Naturvölkern wurde sie daher ausgiebig dazu verwendet, Gebrauchsgegenstände wie Boote oder Kleidung herzustellen. Für Alois Lichtsteiner ist die Malerei eine materielle Schicht, die einen ebenfalls materiellen Träger bedeckt. Das Malen ist Herstellung dieser Deckschicht. Mit der Analogie von Baumrinde und Malerei konzipiert Alois Lichtsteiner das Gemälde (die Einheit von Spannrahmen, Leinwand und aufgetragener Malerei) als einen hautüberzogenen Körper, einen Gegenstand unter anderen Gegenständen der Welt, einen Gegenstand wie andere Gegenstände der Welt, genauer: der Natur. Um diese Gegenständlichkeit der Malerei zu erzielen, muss Alois Lichtsteiner die Begrenzung des Baumstammes von der Darstellung ausschliessen. Die realen Grenzen des Bildträgers sind die Grenzen der Malerei. Dabei ist der Gedanke der Analogie auch wirksam bei der Herstellung einer malerischen Beziehung zur Wirklichkeit der Birkenrinde: Die Erscheinung der Birkenrinde wird nicht nachgeahmt oder vorgetäuscht (Illusionismus), sondern die malerische Praxis (Pinselführung, Modellierung der Farbe, Farbigkeit) wird als Analogie zum Wachstum des Baumes konzipiert. Die Malerei ist eine eigenständige Praxis und resultiert in einer Erscheinung wie die Erscheinung der Birkenrinde.
Alois Lichtsteiner konzipiert das Gemälde als Gegenstand wie andere Gegenstände der Natur. Doch indem seine Malerei gegenständlich ist in ihrer Bezugnahme auf eine ausserhalb ihrer selbst bestehende Realität (Herstellung der Erscheinung von Birkenrinde), bleibt sie dem Ursprung der Malerei verbunden, nämlich ein Bild hervorzubringen von etwas. Lichtsteiners Gemälde will kein Objekt sein, wie es sich Frank Stella etwa mit dem shaped canvas vorgestellt hat. Das Bild ist etwas anderes als das, wovon es Bild ist, es ist eine Sache der Distanzierung, womöglich der Befreiung von dem, was ist, dessen Überführung in die Dimension des Möglichen. Das gilt vermutlich schon für die mythischen Anfänge der Malerei, die Handabdrücke der Höhlenmalereien, die nachgezeichneten Schattenwürfe, ebenso wie für jene malerischen Illusionen, die sogar Malerkollegen so perfekt täuschen konnten, dass sie zu ihnen sich verhielten, als seien es wirkliche Dinge. Es gilt dann vor allem für die Malerei der Moderne, für die beispielhaft die Aussage Cézannes gilt, sie sei réalisation, Verwirklichung, etwas, das, so ist anzunehmen, das Wirkliche als solches nicht ist. Alois Lichtsteiners Malerei partizipiert am modernen Konzept der Verwirklichung parallel zur Natur, jedoch in der eigentümlichen Form, dass diese Verwirklichung nicht Sache allein der Malerei im engeren Sinn ist, sondern Sache des Gemäldes als ganzem, mit allem, was materiell zu ihm gehört. Als hautüberzogener Körper ist das Gemälde ein Gegenstand wie andere Gegenstände, und die gegenständliche Malerei macht ihn erscheinen wie einen anderen Gegenstand. Es findet eine Fusion statt von materieller Analogie und mimetischer Darstellung: Im Bild der Birkenrinde stellt die Malerei dar, was sie ist (durch diese Darstellung werden kann). So ist die Malerei Verwirklichung der Malerei, Verwirklichung der Malerei als reiner Möglichkeit des Wirklichen.
kuratiert von Ulrich Loock