Rudolf Blättler
Ubinas
Ubinas ist der Name eine Vulkans in den peruanischen Anden, die Blättler wiederholt bereist hat. Die Herleitung dieses Namens aus dem Lateinischen (ubi = wo, nascere = gebären) verweist auf einen Ort des Ursprungs des Lebens. Ubinas – wo alles herkommt – ist nicht nur ein Werktitel, sondern geradezu eines der Leitmotive im Schaffen von Rudolf Blättler. Sein Werk geht den Grundbedingungen des Lebens nach, fragt nach dem Woher und dem Wohin, zeigt Licht und Dunkel, verbindet Mann und Frau.
Der 1941 im nidwaldischen Kehrsiten geborene Rudolf Blättler zählt heute zu den grossen Schweizer Bildhauern der Gegenwart. Die Ausstellung im Kunstmuseum würdigt ihn anhand sorgfältig ausgewählter Arbeiten aus einem Œuvre, das fast vier Jahrzehnte umspannt. Verschiedene Werkphasen, die sich in ihren Ausdrucksformen markant unterscheiden, fügen sich hier wieder zusammen und verschmelzen aufgrund ihrer gemeinsamen Fragestellungen, aber auch dank ihrer Fähigkeit, uns Betrachterinnen und Betrachter miteinzubeziehen, indem sie uns herausfordern und teilhaben lassen.
Die seit Ende der 80er Jahre entstehenden imposanten Gips- und Bronzefiguren überraschen bei näherer Betrachtung durch ihre sorgfältige, liebevolle Oberflächenbehandlung. Ihre Formen erinnern an naturhafte Phänomene, sie stehen buchstäblich stämmig auf dem Boden, mit dem sie geradezu verwurzelt scheinen. Es sind keine Porträts nach Modell oder Abbildungen von existierenden Menschen, sondern Schöpfungen des Künstlers. Neben einigen Paaren sind die meisten dieser Geschöpfe Weiber. Blättler wählt bewusst diesen altertümlichen Begriff, der den lebensspendenden (schöpferischen) Aspekt des Weiblichen einschliesst und die Figuren auch auf der begrifflichen Ebene wieder mit der Natur, der Erde, der Urmutter verbindet. Die Erde als der Ort, der gibt und nimmt, der Ort, der Teil des natürlichen Kreislaufs ist, dem auch unser Leben unterworfen ist.
Es wird nicht erstaunen, dass die Sexualität im Werk eines Künstlers, der den Grundfragen der Existenz nachspürt, eine wichtige Rolle spielt. Die Auseinandersetzung mit dem faszinierenden Phänomen der Zweigeschlechtigkeit zur Erzeugung des Lebens äussert sich nicht nur in einer oft eindeutigen phallischen und vulvaförmigen Bildlichkeit oder in einem innig kopulierenden Paar, sondern auch viel allgemeiner in der Beschäftigung mit Orten des Übergangs von einer Welt zur anderen, vom Aussen zum Innen, vom Licht zum Dunkel. Neben Augen, Mund und Geschlecht ist beispielsweise der Vulkan ein Ort, wo zwei Welten sich durchdringen, wo die Erde sich ausstülpt und zugleich verschlingt.
In diesem Sinne sind auch die utopischen Projekte der Jahre 1976 bis 1986 zu verstehen. Es sind Modelle gigantischer Architekturen, die man als Kultanlagen bezeichnen könnte. Sie legen uns einen Weg tief ins Erdinnere und ermöglichen uns, einer schamanischen Reise gleich, eine Erfahrung des Selbst – Ubinas – , bevor sie uns wieder in die Wirklichkeit, auf die Erdoberfläche, ins Licht zurückführen.
Die dritte Werkgruppe schliesslich besteht aus Blättlers Arbeiten auf Papier. Es sind feine und poetische Umsetzungen derselben Thematik, meistens entstanden auf den zahlreichen Reisen des Künstlers an kraftvolle Plätze dieser Erde. In den letzten drei Jahren folgte dann, parallel zur plastischen Arbeit, eine intensive zeichnerische und malerische Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur, die in zwei Serien mündete: Einerseits die mit höchster Präzision und Konzentration in lavierter Chinatusche ausgeführte Fokussierung der Körpermitte des Menschen, die die Zweigeschlechtigkeit sowohl unterstreicht wie auch verwischt. Andererseits eine Reihe berührender Halbfiguren oder Gesichter, deren Platzierung am unteren Bildrand oder deren Einbettung in die Umgebung sowohl ein Gefühl der Geborgenheit wie der Verlorenheit vermittelt.
Die Ausstellung Rudolf Blättler. Ubinas ermöglicht mit 12 Projekten, 7 figürlichen Skulpturen und 36 Zeichnungen einen Überblick über Blättlers gesamtes künstlerisches Schaffen. Die neutrale Museumsumgebung lässt viele der Arbeiten, die wir bislang – zurecht und auch wegen ihrer Platzierung im Aussenraum – meist unmittelbar mit der Natur verbunden haben, in neuem Licht erscheinen und ihre künstlerische Qualität neu erfahren.
In Verbindung mit dieser bisher umfassendsten Einzelausstellung wird Blättler Ende Mai ein Projekt realisieren, das an die denkwürdige Rauminstallation Schwarzes Haus von 1981 im Kunstmuseum Luzern anknüpft. Schwarzes Haus II wird im Hinblick auf die spezifische Situation des neuen Kunstmuseums in Jean Nouvels KKL konzipiert und nutzt einen fensterlosen Raum (8 x 13 Meter Grundfläche, Deckenhöhe 6½ Meter), der nur von einer eigentlich funktionslosen, über eine Treppe zugängliche, emporenartigen Nische von oben einsehbar ist. Das aufwändige, ortsspezifische Projekt wird noch während Blättlers Ausstellung am 26.05. eröffnet und bleibt bis am 14.11.2004 als permanente Installation bestehen. Es fügt sich – wie schon Christoph Rütimanns bereits legendäre Performance Hängen am Museum vom Mai 2002 – ins Konzept des Kunstmuseums Luzern, das neue Museum mit dem alten Kunsthaus von Armin Meile zu verbinden und auch inhaltliche Klammern zu aussergewöhnlichen Kunstereignissen der jüngeren Geschichte dieses Museums zu setzen.
kuratiert von Peter Fischer
Die Ausstellung wird unterstützt durch Binding Sélection d’artistes (Sophie und Karl Binding Stiftung); Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr/Siemens Building Technologies; Anliker AG Bauunternehmung, Emmenbrücke; Viscosuisse Immobilien AG, Emmenbrücke; HG Commerciale, Luzern; Kulturförderung des Kantons Nidwalden; Gemeinnützige Stiftung Leonard von Matt; Etienne AG, Luzern, Gabriel Transporte, Luzern.