Der Lesesaal
Werke aus der Sammlung von Hodler, Augusto und Giovanni Giacometti, Amiet, Vallotton und Markowitsch
Literatur und bildende Kunst sind eng miteinander verbunden. Bilder vermögen eine Erzählung zu vermitteln und Texte können etwas zur Darstellung bringen. Es sind zwei künstlerische Medien, die sich ergänzen, aber auch traditionell in Konkurrenz zueinander stehen. Galt einst das Wort als mächtigster Inhaltsträger ist es heute das Bild, das unsere Wahrnehmung dominiert. Sprache hat in der Kunst grosse Bedeutung: die Beschreibung und Interpretation von Kunstwerken ist ohne sie nicht denkbar. Viele Künstlerinnen und Künstler begleiten in Texten ihr Werk auf einer theoretischen Ebene oder sind schriftstellerisch tätig. In der Sammlungspräsentation Der Lesesaal sind sechs Lesesäle eingerichtet, in denen das Betrachten von Kunstwerken mit verschiedenen Text- und Sprachformen verknüpft wird. Lektüre, Sprache, Schrift und Bild, visuelle und schriftliche Kultur sind zu einem dichten Netz verwoben.
Die Ausstellung wird mit einer Hommage an einen Schriftsteller eröffnet, der selbst mehrmals Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung war. Der 1845 in Liestal geborene Carl Spitteler liess sich 1893 in Luzern nieder, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1924 lebte. Spitteler war Lyriker, Erzähler und Essayist und erhielt 1919 als erster Schweizer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Ferdinand Hodler (1853–1918) malte Spitteler im Jahr 1915, als die beiden Männer durch die Propaganda der beiden Krieg führenden Nachbarn Frankreich und Deutschland stark angefeindet wurden. Das Projekt Bibliotherapy stellt im Œuvre Rémy Markowitschs (*1957) einen Höhepunkt seiner Beschäftigung mit dem Universum Buch dar. Markowitsch hat Hunderte von Personen die drei Bücher Bouvard et Pécuchet, Robinson Crusoe und Der grüne Heinrich lesen lassen und dieses Lesen als Kollaborationsprojekt filmisch festgehalten. Die Lesung von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, die als Vierkanalprojektion gezeigt wird, dauert insgesamt 42 Stunden. Die ungeschnittenen Lesesequenzen werden von vier verschiedenen Personengruppen – Jugendliche, Frauen, Malerkollegen sowie der Künstler selbst und seine persönlichen Freunde – bestritten. Die Kameraeinstellung bleibt jeweils statisch, doch die variierte, schillernde sprachliche Gestaltung der Vorleser macht die Erzählung zum facettenreichen Bildnis eines Texts.
Der Briefverkehr zwischen Cuno Amiet (1886–1961) und Giovanni Giacometti (1868–1933) ist ein kontinuierlicher Dialog, der das Leben und die künstlerische Laufbahn der beiden Malerfreunde kommentierend begleitet. Er wurde im Jahr 2000 als Buch veröffentlicht und steht im Zentrum des dritten Lesesaals. Schon während ihrer gemeinsamen Ausbildung interessierten sich Amiet und Giacometti für ähnliche künstlerische Fragestellungen. Doch stets suchten sie die Unterschiede in ihrer Malerei zu ergründen.
Ein Farbenrausch von exotischer Buntheit strahlt aus den Bildern von Augusto Giacometti (1877–1947), einem Vetter zweiten Grades von Giovanni Giacometti. In den prächtigen Blumenstillleben inszeniert er die Farben als Feuerwerk. Félix Vallotton (1865–1925) hat fünf Theaterstücke und drei Romane geschrieben. Die Gemälde Vallottons werden mit Textausschnitten aus seinem 1920 verfassten Roman Corbehaut konfrontiert. Der Roman handelt von einem jungen Schriftsteller, der sich in ein bretonisches Hafenstädtchen zurückzieht, um für eine Tageszeitung eine Kolportagegeschichte zu schreiben.
Als fulminanter Schlusspunkt der Ausstellung findet sich in einer eigentlichen Hodlerbibliothek der Gesamtbestand der Werke Ferdinand Hodlers in der Sammlung des Kunstmuseums Luzern. Über den Künstler und sein Werk sind Hunderte von Publikationen erschienen. Die wichtigsten werden hier aufgestellt und können von den Besucherinnen und Besuchern eingesehen werden. Der Vergleich mit den Originalen soll zu eigenen Forschungsstreifzügen animieren.
kuratiert von Christoph Lichtin