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Silvie Defraoui, 1 Einträge

Die 1935 in St. Gallen geborene Silvie Defraoui bricht in den 1950er Jahren nach Algier auf, um dort an der Kunsthochschule Malerei zu studieren. Der kolonial geprägte gesellschaftliche Kontext der nordafrikanischen Stadt beeindruckt die junge St. Gallerin. Noch vor dem Ausbruch des Algerienkriegs 1954 kehrt sie in die Schweiz zurück und besucht die Ecole des arts décoratifs in Genf. Damals lernt Silvia Rehsteiner – wie die Künstlerin ledig heisst – Chérif Defraoui (1932–1994) kennen. Der Genfer mit ägyptischen Wurzeln schliesst eben das Gymnasium ab. Als sie ein Paar werden studiert er Rechtswissenschaften, promoviert dann in Cambridge über Institutionenrecht. Nach dem Malereiunterricht und ihrer kunstgewerblichen Ausbildung in Genf erlangt Silvie Defraoui erste Annerkennung als Keramikerin. 1961, 1966 und 1967 erhält sie den eidgenössischen Preis für angewandte Kunst. Während längeren Spanienaufenthalten konzentriert sie sich bis 1969 auf Baukeramik, die Anfertigung von Böden, studiert die chemische Zusammensetzung und die ästhetische Wirkung verschiedener Glasuren. In ihrer Arbeit vermisst sie aber zunehmend den direkten Zugang zur Welt, den sie sich nun durch das Fotografieren ihrer unmittelbaren Umgebung erschliesst. Den Winter über arbeitet Silvie Defraoui in ihrem Pied-à-terre in Spanien, wo zu Beginn der 1970er Jahre auch Chérif künstlerisch tätig wird.

Das Paar pflegt eine fortlaufend intensive, thematische Auseinandersetzung aus der zunächst die gemeinsame Lehrtätigkeit, später auch die künstlerische Zusammenarbeit hervorgehen. Ihr bereits 1974 ins Leben gerufener Lehrstuhl für „Mixed Media“ – das „ Atelier des médias mixtes“ an der Genfer Kunsthochschule Ecole supérieure d’art visuel (ESAV) eröffnet Studierenden über die gewohnte Unterrichtsstruktur hinaus vielfältige Perspektiven. Durch eine zunächst rein diskursorientierte Ausbildung sollen die Schüler im Gespräch zu ihren eigenen Anliegen und Aussagen finden. Die Inhalte werden dann in ihrer jeweils adäquatesten Form umgesetzt ohne diese von Vornherein auf ein Medium zu beschränken. Der Unterricht, den Silvie Defraoui nach dem Tode Chérifs (1994) bis 1999 alleine weiterführt, prägt die Arbeit nachfolgender Künstlergenerationen. Schweizer Künstlerinnen und Künstler wie Marie José Burki, Emanuelle Antille oder Sharyar Nashat pflegen bis heute engen Kontakt zu ihrer Mentorin.

Ab Mitte der 1970er bis in die 1990er Jahre entwickeln Silvie und Chérif Defraoui zwischen ihren bevorzugten Aufenthaltsorten Italien, Spanien und Nordafrika ein multimedial-installatives Werk, das Fotografie, Malerei und Typographie ebenso einschliesst wie das unter dem Begriff „New Media“ bereits seit den 1960er Jahren in die Kunst Eingang findende Medium Video. In den Fussstapfen von Videokunst- und Fluxus-Legende Nam June Paik weiten damals Künstler wie Jean Otth den medienspezifischen Diskurs der Moderne auf den Bereich des elektronischen Signalprozesses im Video aus. Während die hauptsächlich in der französischsprachigen Region angesiedelten Schweizer Videokunst-Pioniere um den Direktor des Lausanner Musée des beaux-arts, René Berger, das audiovisuelle Darstellungsspektrum der elektromagnetischen Wellen erforschen, interessiert Silvie und Chérif Defraoui die Aufzeichnungstechnik als eines unter zahlreichen Verfahren, die erlauben, Erlebtes bildhaft abzurufen. Dass es sich dabei um Bilder handelt, die andere räumlich-mentale Inszenierungsmöglichkeiten eröffnen, bleibt gegenüber deren medienspezifischen Eigenschaften vorrangig.

In Kombination mit Objets trouvés, gefasst von Rahmen, unterstützt durch Konsolen oder gerüstartige Substruktionen schaffen Silvie und Chérif Defraoui räumliche Installationen, in denen sich kulturelle und visuelle Wahrnehmungsmuster überlagern. Ihre medial wie thematisch vielfältigen Assemblagen verändern die Wahrnehmung natürlicher Gegenstände und lassen diese als kulturell geprägte Erinnerungsstücke erscheinen. Mit den Stilmitteln der Projektion und des Bildzuschnitts erfassen und materialisieren sie die Prägungen der gegenständlichen Welt in Raum und Zeit. Die Projektion von Dias, später auch von Videos wird in ihrer Arbeit zum Sinnbild der konstruktiv wirksamen Erinnerung. In Form von Geschichten werden Erinnerungen in Orte oder Bilder hinein proijeziert und spannen dabei einen geschichtlichen Horizont auf („La traversée du siècle“, KML 1988). Das Erinnern in Silvie und Chérif Defraouis Arbeit ist nicht nostalgisch, sondern vorwärts orientiert. Der eigenen Zeit fühlen sie sich denn auch – gerade in ihrer künstlerischen Zusammenarbeit – weit voraus. Ihre gemeinsame Arbeit begreifen sie daher als ein grosses, vielfach gegliedertes, anachronistisches Projekt: als „Archiv der Zukunft“ oder eben „les archives du futur“. Weil Silvie und Chérif Defraoui alle ihre Arbeiten in diesem Gesamtwerk verorten, lässt sich das in den 1980er Jahren geprägte Paradigma eines Netzwerks verschiedener unhierarchisch verdichteter Gedankenebenen gut darauf übertragen.

Nicht nur Silvie und Chérif Defraouis als „postmedial“ zu bezeichnender Umgang mit darstellenden und Raum konstituierenden Mitteln, sondern auch, dass sie alle Arbeiten gemeinsam signieren, ist damals ungewöhnlich. Obwohl jeweils unterschiedliche Interessen die Zusammenarbeit prägen, gelingt es ihnen damit überkommene Rollenbilder im Kollektiv aufzulösen. Bis die britischen Künstler Gilbert & George 1967 innerhalb ihrer Produktionsgemeinschaft den Topos des Künstlergenies zu dekonstruieren beginnen, ist die Arbeit von Künstlerpaaren wie beispielsweise Jean Arp/Sophie Taeuber-Arp oder Jackson Pollock/Lee Krasner individuell geprägt, wird daher auch geschieden wahrgenommen. Erst seit Beginn der 1990er Jahre setzten sich Kollaborationen in der künstlerischen Praxis richtig durch.

Seit 1980 zeigen Silvie und Chérif Defraouis Arbeiten vermehrt scherenschnittartige Zitate tierischer Silhouetten. Die vielfältigen Zwitterwesen erscheinen am Übergang von der Darstellung zum Zeichen, vom Bild zum Ornament und vom Tier zum Mensch. Zunehmend rücken aber auch die Zeichenhaftigkeit des geschriebenen Wortes oder die gestaltpsychologische Bildwahrnehmung in den Vordergrund. Das Bezugssystem ihrer Kunst erscheint bisweilen von einer kulturhistorisch-ethnografisch forschenden Absicht geprägt. Zu Beginn der Nullerjahre kritisieren Künstler vemehrt die eurozentristische Perspektive in Kunst, Wissenschaft und Politik. Die aufkommenden „postcolonial studies“ untersuchen und entlarven schon seit 1979 beispielsweise den Orientalismus als ein ebenso kategorisierendes Konstrukt wie die „gender studies“ zuvor das Rollenbild von Mann wie Frau. Obwohl oder gerade weil Chérif und Silvie Defraoui in ihrer Arbeit mit vielfältigen Medien arbeiten und bewusst mit ihrer eigenen kulturellen Prägung umgehen, lässt sie sich schlecht mit Etiketts wie „Videokunst“ oder „postkolonialistische Kunst“ versehen. Silvie und Chérif Defraouis Teilnahme an der „documenta IX“ in Kassel krönt 1992 ihre Zusammenarbeit. Ihr Hauptanliegen bleibt dabei, den Betrachter, die Betrachterin in einen wie von Geisterhand verzauberten Assoziationsraum zu versetzen, in dem er oder sie sich selbst reflektiert, um mit den eigenen Projektionen zur Vervollständigung des Werks beizutragen. Mit neuen Arbeiten trägt auch Silvie Defraoui weiterhin zu den „archives du futur“ bei. 2007 wird sie mit dem Kulturpreis der Stadt Genf ausgezeichnet und erhält 2008 den Kulturpreis des Kantons Waadt.

Gabrielle Schaad
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