Albert Anker kennt man hauptsächlich als Maler des bäuerlich-ländlichen Genres, wo er sich durch eine naturalistische, akribische Schilderung der individuell empfundenen Charaktere hervortut. Dass diese ausserdem über sich hinaus auf allgemein menschliche Verhaltensweisen hindeuten, ist gewissermassen Programm. Weniger bekannt sind die während und nach der Ausbildung in Paris entstandenen Werke mit historisierenden und biblischen Motiven. In grossen komponierten Gemälden wie "Das Knöchelspiel" (1864) oder "Böckligumpen" (1866) versucht der Schweizer Künstler sich als "Neogréc" und tritt so den Wettstreit mit seinem Lehrer Charles Gleyre und anderen Vertretern des neugriechischen Genres an. Auch später greift er bisweilen auf idealistische Motive zurück. In den Wintermonaten 1883–84 beispielsweise weilt Anker an der Akademie Colarossi in Paris, wo er Akt- und Kostümstudien betreibt. Zu dieser Zeit sind die "Frau mit Lorbeerkranz" sowie der männliche Akt auf der Rückseite des Blattes entstanden.
Das Aquarell zeigt das Brustbild einer Frau im Dreiviertelprofil. Sie trägt ein weisses Gewand und einen über die linke Schulter geworfenen Mantel. Beide sind mit wenigen Pinselstrichen nur summarisch angedeutet. Um das dunkelbraune Haar, das der Dargestellten in Locken über den Rücken fällt, windet sich ein Kranz aus Lorbeerblättern. Eine Lichtquelle von links oben taucht den auffallend kräftigen Nacken in ein helles Licht, während der Lorbeer Schatten auf Stirn und Augen wirft. Dem Blick aus den dunklen Augen haftet etwas Schwermütiges an, ansonsten wirkt das Gesicht unbewegt.
Während seiner Ausbildung und seiner Lehrjahre zwischen 1855 und 1861 hat Anker, wie damals üblich, im Louvre und in anderen Museen Kopien alter Meister angefertigt. Für Poussins "Et in Arcadia ego" hegt er eine besondere Vorliebe, wie sein Artikel um 1851 im Zofingerblatt bezeugt. Eine Darstellung wie die hier besprochene scheint direkt aus der Begegnung mit Poussin und dessen lorbeerbekränzten Gestalten (z.B. in " L'Inspiration du poète", um 1630) zu entspringen. Ursprünglich ein Attribut der Götter ist der Lorbeerkranz bis heute ein Symbol für höhere Auszeichnung geblieben. Welche Funktion ihm bei Anker genau zukommt, kann nicht vollständig geklärt werden, zumal der Frau mit Lorbeerkranz, in der Ausstellung vom Berner Kunstmuseum von 1931 auch als "Muse" bezeichnet, etwas Androgynes anhaftet, das eine hundertprozentig sichere Bestimmung des Geschlechts verunmöglicht. So weist die auf dem Aquarell wiedergegebene Figur auffallende Ähnlichkeiten mit verschiedenen Fayencen weiblicher und männlicher historischer Gestalten auf. Dass Anker bei diesen Fayencen auf die Aquarellstudie zurückgegriffen hat, ist durchaus denkbar. Häufig nimmt er bei seinen Fayenceentwürfen Bezug auf Motive seiner Ölbilder und Aquarelle und wandelt diese ab. Bekanntes Beispiel ist das Ölgemälde des "Bonvivant", den Anker in einer Fayence zum "Falstaff" umfunktioniert.
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