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Werkbeschrieb
Rémy Markowitschs Videoinstallation „Bibliotherapy meets Der grüne Heinrich“ von 2003 besteht aus Videosequenzen von 140 verschiedenen Personen, die aus dem vierbändigen, zwischen 1854 und 1880 in zwei Fassungen erschienen Roman „Der grüne Heinrich“ des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller vorlesen. In inhaltlicher Hinsicht gliedert Markowitsch die Vorlesenden gemäss der Struktur der literarischen Vorlage. Der erste Band des Werkes behandelt die Jugendjahre des Protagonisten, dementsprechend sind es Jugendliche, die ihn vorlesen. Im zweiten Band der literarischen Vorlage stehen zwei für Heinrichs Leben prägende weiblichen Figuren im Zentrum, Markowitsch lässt diese Passagen von Frauen vorlesen. Der dritte Band befasst sich mit den Bemühungen der Romanfigur ein etablierter Maler zu werden, als Vorleser agieren nun Künstler. Wohl gleichsam als Abschluss des Werkes agiert Markowitsch im letzten Band – der, je nach Fassung, den Tod des Protagonisten oder aber sein mehr oder weniger glückliches Weiterleben als einfacher Beamter erzählt – gemeinsam mit Freunden selbst als Vorleser. Die vorlesenden Personen werden durch eine statische Digitalkamera an ganz unterschiedlichen Orten gefilmt: Sie lesen auf offener Strasse, in Parks, auf Terrassen, in gutbürgerlich eingerichteten Wohnzimmern oder an Küchentischen.
Das grossangelegte Projekt „Bibliotherapy“ besteht – neben Kellers „Grünem Heinrich“ – aus Lesungen von Gustave Flauberts „Bouvard et Pécuchet“ (vgl. KML 2003.9v) und Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, und konzipiert sich im Sinne des Künstlers als 'work in progress', das je nach Ausstellungsort variiert wird. So werden die in ihrer Präsentation grundsätzlich variablen Videosequenzen der Lesungen ergänzt durch Elemente wie die floralen Bodenbemalungen und die in einem ähnlichen Muster gehaltenen Sitzkissen des taiwanesischen Künstlers Michael Min Hong Lin, die als Sitzfläche für die Besucherinnen und Besucher fungierenden Holzelemente des Architekten Philipp von Matt oder die grosse, skulpturale Leuchtinstallation „BonsaiPotato“ (2001) von Markowitsch selbst. In inhaltlicher Hinsicht stellt „Bibliotherapy“ einen Kulminationspunkt in Markowitschs, beispielsweise bereits 1996 anlässlich der Ausstellung „Finger im Buch“ im Kunstmuseum Luzern aufgegriffenen Auseinandersetzung mit dem Medium Buch, mit den Themen der Sprache, der Lektüre und der schriftlichen und visuellen Kultur dar. Hierbei interessiert ihn das Buch sowohl in seiner Form als kulturelles Produkt, als Speicher von kulturellem Wissen, als auch als literarisches Erzeugnis. Durch den performativen Akt des lauten Vortragens als älteste kulturelle und literarische Überlieferung, durch die persönliche Färbung und Gestaltung des Textes jedes einzelnen Vorlesers entsteht das 'Bildnis' eines Textes, das in seiner Länge und in seiner eigentlichen Bewegungslosigkeit zugleich mit gängigen Sehgewohnheiten bricht. In diesem Sinne erweitert Markowitsch das Buch als Speicher von kulturellem Wissen um die Ebene des Visuellen, die im künstlerischen Verarbeitungsprozess als Videofilm wiederum eine Speicherung erfährt und als Aufzeichnung in Tausenden von Gigabytes die elektronischen Medien selbst zum Gedächtnisspeicher werden lässt.
Während bei „Bibliotherapy meets Bouvard et Pécuchet“ der Aspekt des Buches als immenser Speicher für kulturelles Wissen auch auf der Ebene von Flauberts Roman einen inhaltlichen Fokus darstellt, steht in der literarischen Vorlage von „Bibliotherapy meets der grüne Heinrich“ eher die grundsätzliche Bedeutung von Büchern in der Entwicklung eines Menschen im Vordergrund. Als klassischer Vertreter des literarischen Genres des Bildungsromanes in der Tradition von Goethes „Wilhelm Meister“ (1795/96) suggeriert auch „Der grüne Heinrich“, dass Bücher und Lektüre das Individuum bilden und ihm stellvertretende Erfahrungen verschaffen können. Bezeichnenderweise hat Markowitsch auch für sein drittes „Bibliotheraphy“-Projekt ein literarisches Werk gewählt, das sich mit der zentralen gesellschaftlichen Funktion von Büchern beschäftigt. So gibt der englische Schriftsteller Daniel Dafoe seiner Romanfigur in „Robinson Crusoe“ einzig eine Bibel mit auf die einsame Insel und verweist so auf die Bedeutung der zwischen den Buchdeckeln enthaltenen gesellschaftlichen Werte. Der vom Künstler gewählte Werktitel der „Bibliotherapy“ intendiert letztlich etwas Ähnliches: Mit dem Verweis auf die tatsächlich existierende Therapieform der Bibliotherapie, die auf die Heilkraft der Sprache setzt, fragt Rémy Markowitsch nach der kulturellen Konnotation des Buches, der Lektüre und nach der Wirkung von Literatur.
Gioia Dal Molin
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Mai 2003
Eingangsjahr:2003
Ausstellungsgeschichte
Der Lesesaal. Werke aus der Sammlung von Hodler, Augusto und Giovanni Giacometti, Amiet, Vallotton, Markowitsch, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 06.05.2006 - 27.08.2006
Rémy Markowitsch, in Zusammenarbeit mit Michael Lin: Bibliotherapy meets Bouvard et Pécuchet, Robinson Crusoe and Der grüne Heinrich, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 01.02.2003 - 27.04.2003
Literatur
Affentranger-Kirchrath, Angelika, "Zwischen Buch und Lampe. Vier Projekte von Rémy Markowitsch", in: Parkett, No. 75, 2005, S. 15-19
Müller, Irene, "The memory remains. Bemerkungen zu den Begriffen Speicher und Gedächtnis vor dem Hintergrund zeitgenössischer Kunst", in: Visions of a future. Art and art history in changing contexts, hrsg. von Hans-Jörg Heusser und Kornelia Imesch, Zürich: SIK, 2004, S. 227-240,