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Werkbeschrieb
Rémy Markowitschs Arbeit „Black Swan (Mother’s Finest)“ zeigt zwei, in etwa lebensgrosse Lämmer, die auf ihren staksigen Beinen überaus zerbrechlich wirken und mit ihren grossen Kulleraugen auf den ersten Blick niedlich und süss erscheinen. Dieser erste Eindruck wird jedoch bei genauerem Hinsehen unmittelbar aufgebrochen. Während das eine Tier wohl einen schafsähnlichen Pelz hat, erscheint das andere Lämmchen gleichsam als aus Lederstücken zusammengesetztes, durch und durch artifizielles Wesen. Der Eindruck der Künstlichkeit wird durch die Entdeckung eines gängigen Knopfes am Hinterteil des pelzigen Lammes und durch die Einsicht, dass das vermeintliche Fell viel mehr ein bereits verarbeiteter Pelz, gar ein Persianermantel ist, noch verstärkt. Die Einsicht über die Künstlichkeit der Tiere erhält in diesem Sinne angesichts der Verwendung des toten Materials des Pelzmantels eine latent morbide Konnotation und bricht zudem mit der tradierten christlichen Symbolik des Lammes in der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte.
Tatsächlich bedient sich Markowitsch für die skulpturale Arbeit von 2009 einem sogenannten Persianer, den er von einem Experten verarbeiten liess. Ein Tierpräparator überzog zwei Kunststoffmodelle von Lämmern mit dem Pelz – wobei dieser bei einem der beiden Präparate mit der ledernen Futterseite nach aussen verarbeitet wurde – und stattete sie mit Kunststoffaugen und Hufen aus. Ursprünglich von wenigen Tagen oder gar nur wenigen Stunden alten Karakulschafen stammend – nicht selten wird auch eine Frühgeburt provoziert –, ist der Persianerpelz negativ besetzt. Die im visuellen Eindruck des Kunstwerks präsente, ansatzweise unheimliche, sicherlich aber morbide Konnotation bestätigt sich demnach auch im verwendeten Material. Im Wissen um den Herstellungsprozess wird offenbar, dass der Pelzmantel als von Menschen geschaffenes, in diesem Sinne kulturelles Objekt in Markowitschs künstlerischem Werk eine Art ungewohnte 'Rück-Transformation' erfährt und sich gleichsam seinem natürlichen 'Urzustand' annähert: Einst Fell, dann Pelzmantel soll er nun wieder als Fell erscheinen. Hierbei spielt Markowitschs künstlerische Rückführung jedoch gezielt mit den diesem Prozess unweigerlich immanenten Abgründen und Unheimlichkeiten. Dieser Akt der Transformation ist auch in anderen Werken des Künstlers zentral: So realisiert Markowitsch 2008 die Videoarbeit „Miu Miu! Strip! Strip!“ und das Objekt „Miumiubull“, für die ein Paar von ihm getragene Lederschuhe der Luxusmarke „Miu Miu“ von einer Schuhmacherin zerlegt und zu einem Bullenkopf umgearbeitet werden. Gleich wie in „Black Swan (Mother’s Finest)“ thematisiert der Künstler auch im genannten Werkkomplex die visuelle Rückführung eines kulturellen Luxusproduktes in seinen natürlichen 'Urzustand'. Zugleich – und hierbei wird die Komplexität und Vielschichtigkeit von Markowitschs gesamtem künstlerischen Œuvre offenbar – schaffen sowohl die Werke aus dem „Miu Miu“-Komplex, als auch die präparierten Lämmer eine weitere Ebene der Transformation: Sie erscheinen nicht nur als visuelle Referenzen an den ursprünglichen Zustand des Luxusproduktes – seien es nun die Lederschuhe oder der Pelzmantel – sondern sie sind in ihrer Form auch von einem Künstler geschaffene Kunstwerke und letztlich ebenfalls Luxusprodukte. Markowitsch vermag demnach aufzuzeigen, dass die Produktion von Kunst stets einher geht mit einem Prozess der ökonomischen und kulturellen Wertgewinnung. So mündet letztlich auch die vordergründig intendierte Wiederherstellung eines 'natürlichen Zustandes' in der Erzeugung eines mehr denn je kulturellen Produktes.
Mit Blick auf den vom Künstler gesetzten Werktitel öffnet sich eine weitere Ebene der Interpretation. Die sogenannte „Black Swan-Theorie“ referiert als stehender Begriff auf ein 2007 erschienenes Buch des libanesischen Wissenschaftlers Nassim Nicholas Taleb, in dem unerwartete, gänzlich unvorhersehbare Ereignisse – wie beispielsweise die Genese des Internets oder die Anschläge vom 11. September 2001 – als „Black Swan-Ereignisse“ bezeichnet und hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die internationalen Finanzmärkte untersucht werden. Die Bezeichnung als solche bezieht sich hierbei auf die Entdeckung schwarzer australischer Schwäne im 18. Jahrhundert, die die europäische Vorstellung über die zwingend weisse Farbe dieser Tiere erschütterte. Gemäss Markowitsch widerfährt dem ahnungslosen Karakulschäfchen durch die Tötung nach wenigen Lebenstagen ein ebenso gänzlich unvorhersehbares „Black-Swan-Ereignis“. Der Werktitel lehnt sich jedoch nicht nur an die Theorie zum „Black-Swan-Ereignis“ an, sondern verweist mit dem Zusatz „Mother’s Finest“ auch auf weitere Inhalte. In seinem Bezug zum Kunstwerk ist die Wendung insofern doppeldeutig, als dass sie einerseits andeutet, dass der verwendete Persianer einst der Mutter des Künstlers gehört hat und andererseits auf die Tatsache verweist, dass der Pelz von einem, seiner Mutter jäh entrissenen Lämmchen stammt. Nicht zuletzt bezieht sich der Titelzusatz „Mother’s Finest“ mit der Zitation des Namens einer US-Rockgruppe der 1970er Jahre auch auf die Populärkultur, die für Rémy Markowitschs künstlerisches Schaffen eine bedeutende Referenz darstellt.
Gioia Dal Molin
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Ankauf ermöglicht durch die Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr
Eingangsjahr:2009
Ausstellungsgeschichte
Referenz und Neigung. Kunst des 21. Jahrhunderts aus der Sammlung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 27.02.2010 - 27.06.2010
Karneval der Tiere Tierdarstellungen aus der Sammlung, Luzern, 24.02.2018 - 06.01.2019
Literatur
Gohlke, Gerrit, Mania Astrid, "Die Autopsie des Menetekels. Rémy Markowitsch bei Eigen & Art, Leipzig", in: artnet Magazine, Dezember 2009 (Onlinepublikation), unpaginiert