Anthony Douglas Cragg, 2 Entries
Mit seiner Übersiedlung nach Wuppertal 1977, wo Anthony Cragg bis heute lebt und arbeitet, beginnt eine erste spezifische Arbeitsweise des Künstlers: Er sammelt am Strand natürliche Materialien wie Steine, Geäst, Muscheln oder auf Müllhalden abgebrochene, beschädigte Kunststoffteile. Die Fundstücke werden nach formalen Kriterien sortiert und ausgelegt: Material und Farbe bestimmen die neue Ordnung im künstlerischen Kontext. Die Spannung, die aus der Zusammenhangslosigkeit zwischen der neuen Ordnung und der ursprünglichen Funktion der Teile erzeugt wird, nutzt Cragg um die kulturellen Werte von Kunststoff zu erkunden. Im Gegensatz zu Holz, Gestein oder Bronze – den als hochwertig geschätzten Materialien der traditionellen Bildhauerei – ist Plastik als Werkstoff aufgrund seiner ausschliesslich funktionalen Dienstbarmachung ohne künstlerischen Wert und nicht bewusst mit Emotionen oder Bedeutungen verbunden. Indem er moderne Materialien verwendet, die das Signum der Gegenwart aus ihrer Entstehung und ihrem Gebrauch tragen, möchte Cragg zu einem reflektierten Umgang damit anregen und, nicht zuletzt die Impulse der 1960er Jahre aufnehmend, die Erzeugnisse der Alltagskultur in den Kunstkontext integrieren.
Gegen Ende der 1980er Jahre wendet sich Cragg der Schöpfung eigener Formen zu. Bei aller Vielfalt lassen sich grundsätzlich zwei Formtypen unterscheiden: Der eine evoziert überdimensionierte Werkzeuge und Maschinenteile, der andere erinnert an organische, körperhafte Gebilde. Nun finden klassische Bildhauermaterialien wie Holz, Bronze, Marmor, Gips ebenso Verwendung wie Kevlar, Karbon- und Glasfaser, Polystyrol oder gar Plastikwürfel. Natürliche Formungsprozesse wie Schichtung, Sedimentierung, Zellteilung und Wucherung, Öffnung und Fluss, Torsion, Achsenverschiebung und Gelenkbildung bestimmen die Genese und Gestalt seiner Werke. Die Titel der Werke, etwa "Forminifera", "Early Form" oder "Secretion", fügen dem Verhältnis von Material und Form eine zusätzliche richtungsweisende Assoziationsebene hinzu. So wendet Cragg die seit jeher in der Bildhauerkunst wirksame Dialektik zwischen Material und Form auf moderne Kunststoffe und archetypische Formen an. Die Merkmale des jeweils verwendeten Materials stehen in produktiver Spannung zu den Qualitäten, die die organischen Formen seiner Skulpturen suggerieren. Das Auge des Betrachters wird von den schimmernden, oft irisierend glänzenden Oberflächen in Bann gehalten und getäuscht, da es deren Material nicht eindeutig bestimmen kann. Hinzu tritt die komplexe schalenartige Struktur, bei der Durchbrüche und Öffnungen, Wölbungen und Höhlungen ein ambivalentes Verhältnis von Substanz, Volumen und Aussenschicht produzieren. Material und Form werden von Cragg in zwar visuell erfassbare und doch nicht zu ergründende Gestalt gebracht.
Cragg ist einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Bildhauer. Unzählige Galerie-Ausstellungen, Retrospektiven und Publikationen dokumentieren sein umfassendes Werk; unter anderem wurde er 1988 mit dem Turner Preis geehrt. Die Lehrtätigkeit nahm er von 1978 bis 2001 an der Kunstakademie Düsseldorf auf, seit 2001 hat Cragg neben mehreren Ehrenprofessuren eine Professur an der Universität der Künste in Berlin inne.
Martina Papiro
Wuppertal, Von der Heydt-Museum (Ausst.-Kat.), Tony Cragg. Atelier: Wuppertal. Plastiken und Zeichnungen der 90er Jahre, hrsg. von Sabine Fehlemann, mit Texten von Katja Blomberg (et al.), Wuppertal: Von der Heydt-Museum, 1999
Anthony Cragg. Material - Object - Form. Mit den gesammelten Schriften von Anthony Cragg 1981-1998, hrsg. von Helmut Friedel, mit Texten von Susanne Gaensheimer und Ulrich Wilmes, Stuttgart: Edition Cantz, 1999
Paris, Centre Georges Pompidou (Ausst.-Kat.), Tony Cragg, hrsg. von Catherine Grenier, mit Texten von Daniel Soutif (et al.), Paris: Editions du Centre Pompidou, 1995
Newport Beach, Newport Harbor Art Museum (Ausst.-Kat.), Tony Cragg. Sculpture 1975-1990, hrsg. von Paul Schimmel, mit Texten von Lucinda Barnes, Thomas Mc Ecilley (et al.), Newport Beach: Newport Harbor Art Museum (California), 1990
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Zürich, Kunsthaus (Ausst.-Kat.), Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise, hrsg. von Harald Szeemann, mit Texten von Harald Szeemann und Laszlo Glozer, Zürich: Kunsthaus, 1985.