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Franz Erhard Walther, 21 Entries

Franz Erhard Walther wird am 22. Juli 1939 im deutschen Fulda geboren. Die Lehre im familieneigenen Bäckerbetrieb bricht er gegen den Willen seiner Eltern ab und beginnt 18-jährig an der Werkkunstschule Offenbach ein Grafikstudium. Die ersten beiden Studienjahre sind geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Eigenwert verschiedener Materialzustände, denen Walther im Rahmen von Vorarbeiten für aufgetragene Studienarbeiten begegnet. So entdeckt Walther beispielsweise beim Durchpausen von Schrift die Faszination für die dazu auf der Blattrückseite angelegten Schraffuren, aus der die 1958/59 entstandenen „Schraffurzeichnungen“ resultieren. Diese frühen Werke zeugen von seiner Beschäftigung mit den Techniken des Ausstreichens, Überdeckens und Löschens eigener und fremder Zeichnungen sowie von einer Annäherung an die abstrakte und informelle Kunst. 1959 entscheidet sich Walther endgültig für die Kunst und wechselt an die Hochschule für bildende Künste (Städelschule) in Frankfurt. Beflügelt durch die Eindrücke zu den aktuellen Tendenzen der informellen Kunst, denen Walther an der „documenta II“ begegnet, erringt er sich die Erlaubnis, an der streng akademisch ausgerichteten Städelschule abstrakt malen zu dürfen. Walthers Ansprüche an einen am Informel angelehnten künstlerischen Ausdruck scheinen jedoch zusehends mit den Vorstellungen der Ausbildungsstätte zu divergieren und der junge Künstler wechselt 1962 von Frankfurt an die Düsseldorfer Akademie. Walther besucht die Klasse für Malerei bei Karl Otto Götz, einem wichtigen Vertreter des Deutschen Informel, seine Kommilitonen sind beispielsweise Gerhard Richter oder Sigmar Polke.

Der Künstler legt den vom Informel formulierten Anspruch, gleichsam den Nullpunkt der Malerei zu sein, wörtlich aus und nimmt das Zurückgehen an einen Anfangspunkt, wo noch nichts geformt ist, als Schlüssel für seine frühen Papierarbeiten. Im Kontext einer intensiven Beschäftigung mit den stofflichen Eigenschaften des sonst bloss als Bildträger dienenden Papiers gelingt Walther die Überwindung der Zweidimensionalität und der Bildproblematik. Zudem sind gerade die spezifischen materialbedingten Eigenschaften von Papier Ausgangspunkt für Walthers Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von autonomen Formungsprozessen, die beispielsweise durch das Nässen von Papier entstehen können.

Die Faszination für Materialformungen, die nicht ausschliesslich durch den Künstler initiiert sind, prägt auch Walthers erste wegweisende Arbeit – den „1. Werksatz“ – der zwischen 1963 und 1969 entsteht und durch weit über 5000 „Werkzeichnungen“ und „Diagramme“ ergänzt ist. Die 58 Objekte sind vornehmlich aus Baumwollstoff gefertigt und fordern den Betrachter auf, verschiedene Handlungen an ihnen zu vollziehen: sich hineinzulegen, sich mit ihnen zu bedecken oder durch sie hindurch zu kriechen, also gleichsam selbst Teil der Skulptur zu werden. Durch die körperliche Handlung wird der Betrachter zum Teilnehmer und die bald erschöpfte Selbsttätigkeit der Materialien wird durch die beinahe unendliche Selbsttätigkeit des Rezipienten ersetzt. Der Künstler agiert nun nicht mehr als genieähnlicher Schöpfer, der dem Betrachter ein fertiges Werk präsentiert, sondern sein Anspruch besteht darin, dass er neue, von ihm nicht mehr kontrollierte Formbildungsprozesse initiiert. Mit dem „1. Werksatz“ und dem ihm zugrunde liegenden Konzept gelingt Walther ein eigentlicher Paradigmenwechsel in der bildenden Kunst und den Bruch mit dem Kunstverständnis der 1950er Jahre. Ein Bruch, der nicht von allen Akteuren in der Kunstwelt verstanden wird: „Dem Betrachter wird das zugeschoben, was eigentlich der Künstler tun sollte“, moniert die Presse anlässlich Walthers ersten Ausstellung 1964 in seiner Heimatstadt Fulda.

Im selben Jahr beendet Walther sein Studium und lernt 1965 durch die Vermittlung von Karin Polke den Galeristen Heiner Friedrich kennen, der ihm 1967 ermöglicht, nach New York zu gehen. Walthers Aufenthalt in Nordamerika trägt wesentlich dazu bei, dass sein Œuvre in der Kunstwelt zusehends mehr Beachtung findet. Sein „1. Werksatz“ wird von Bazon Brock euphorisch als „Beispiel für die Überwindung der Kunst durch die Kunst“ gefeiert. Walther hat nun die Möglichkeit in den führenden Galerien auszustellen und wird von Harald Szeemann 1969 nach Bern zu „When Attitudes Become Form“ geladen. 1970 stellt er im New Yorker „Museum of Modern Art“ aus, im selben Jahr wird der Künstler an die Hamburger Kunsthochschule berufen. 1972 darf er an der – ebenfalls von Szeemann kuratierten „documenta V“ – in der Abteilung „Individuelle Mythologien“ seinen „1. Werksatz“ ausstellen.

Seit den 1970er Jahren erfährt Walthers künstlerisches Schaffen eine zusehende Transformation. Seine Objekte, die keine eigens beabsichtigten ästhetischen Qualitäten besitzen und durch den Künstler in ihrer Intention als funktionale Werkzeuge gedacht sind, erfahren nun eine ästhetische Verselbstständigung. Die sogenannten „Schreitstücke“ des „2. Werksatzes“ von 1972 oder die zwischen 1979 und 1986 entstehenden „Wandformationen“ determinieren die physische Handlungsmöglichkeit des Rezipienten immer mehr. Der körperliche Eingriff ist nicht mehr zwingend, die Objekte erhalten auch ohne die Interaktion mit dem Betrachter ihren eigenständigen Werkcharakter. Dennoch ist die Position des Rezipienten für Walther nach wie vor zentral, nur ist die reale Handlung einer virtuellen, einer psychischen gewichen. So evozieren beispielsweise Form und Dimension der „Wandformationen“ aus Baumwolle offensichtliche Handlungsmöglichkeiten, die es dem Rezipienten ermöglichen, auch ohne die physische Partizipation skulpturale Vorstellungen zu entwickeln oder sich – so Walther – als „Skulptur zu empfinden oder zu denken“.

Im Laufe seiner inzwischen über ein halbes Jahrhundert andauernden künstlerischen Schaffensphase hatte Walther vielfach die Möglichkeit in den grossen Ausstellungshäuser oder beispielsweise an der „documenta“ auszustellen. In der Schweiz bietet dem Künstler vor allem das „Musée d’Art moderne et contemporain“ (mamco) in Genf immer wieder eine Plattform, beleuchtet verschiedene Aspekte seines Œuvres und widmet ihm im Frühjahr 2010 eine umfangreiche, in der Schweiz erstmalige Retrospektive. Daneben ist auch das Kunstmuseum Luzern für die Rezeption Walthers in der Schweiz von Bedeutung. So sollen die im Kontext der Ausstellung „Übergänge seitlich – Innenmodellierungen“ (1992) erworbenen Werke des Künstlers – „Gesang der Schreitbahnen“ (vgl. KML 92.132w) und die das Ensemble begleitenden Skizzen, Werkpläne und Diagramme (vgl. KML 94.35: 1-70y) aus den 1970er Jahren im grossen Saal des Luzerner Kunstmuseum im Herbst 2010 neu inszeniert werden.

Gioia Dal Molin
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