Schon während seiner Ausbildung zum Schreiner wird Ernst Schurtenbergers zeichnerisches Talent erkannt. Um den Lehrabschluss zu bestehen, raten ihm Kollegen und Ausbildner, seine zeichnerischen Fähigkeiten soweit als möglich auszubauen. Während er seit Mitte der 1950er Jahre abendliche Zeichenkurse an der Luzerner Kunstgewerbeschule, in den 1960er Jahren auch an der Académie de la Grande Chaumière in Paris besucht, entstehen erste kubistisch strukturierte Interieurbilder, Stillleben und zahlreiche Aktdarstellungen in Tempera oder Bleistift auf Papier. Schurtenbergers Objektwahrnehmung und Linienführung sind geprägt vom analytischen Blick, den er beim Zeichnen von Möbelbauplänen erworben hat.
So wirken Stillleben und Figurenzeichnungen, die erstmals zwischen 1961–1968 und dann wieder 1976/77 entstehen wie Abwicklungen der Volumina. Schurtenberger – stets darum bemüht für seine Kunst eine eigene Begrifflichkeit zu prägen – bezeichnet diese Bleistiftarbeiten auf Papier als „Kurvenzeichnungen“. Schurtenberger projiziert den Raum in auf ihre Umrisslinien reduzierten, sich überlagernden Gegenständen einer Röntgenaufnahme vergleichbar aufs Blatt. In den „Kurvenzeichnungen“, zu denen auch die Sammlungsstücke des Kunstmuseums Luzern zählen, gehen die Konturlinien mitunter auch neue Verbindungen ein. Dabei formen sich Umrisshybride, die das Abbild des Ausgangsobjekts in eine ungegenständliche Komposition verwandeln. Als Zeichenwerkzeug setzt Schurtenberger nicht nur den Bleistift sondern auch den Radiergummi ein. Beim gezielten Ausradieren von Verbindungslinien entstehen Striemen, die den Zeichnungen eine eigentümliche Textur verleihen.
In den 1960er und 1970er Jahren erfährt die früher weniger beachtete Gattung der Zeichnung allgemein neue Wertschätzung. Dazu trägt eine Reihe von Ausstellungen bei, von denen hier nur „Mentalität: Zeichnung“ (1976) im Kunstmuseum Luzern namentlich erwähnt sei. Vermehrt nehmen sich auch sehr junge Künstler dem intimeren Format der Bleistiftzeichnung an. Jean-Christophe Ammann macht als verbindendes Element unter den verschiedenen Positionen weniger einen einheitlichen Stil sondern vielmehr eine gemeinsame Mentalität aus. Im Zusammenhang mit dem Werk von Künstlerinnen wie Ilse Weber, die ihre innere Vorstellungswelt und Gefühle objektiv wahrnehmbaren Gegebenheiten gleichwertig als Bildrealität akzeptiert, entsteht die Bezeichnung „Neue Innerlichkeit“. Um derartige Zuschreibungen von Aussen kümmert sich Schurtenberger freilich wenig. Dennoch sind ihm damals nicht zuletzt dank seiner „Kurvenzeichnungen“ erste künstlerische Erfolge beschieden. Sowenig sich Schurtenbergers zeichnerisches Werk in kunsthistorische Kategorien einordnen lässt, so sehr wird er trotzdem auch als Zeichner wahrgenommen und als solcher zu repräsentativen Gruppenausstellungen eingeladen. Schliesslich zeigt er bei diesen Gelegenheiten aber lieber experimentelle Schriften und pamphletartige Gedichte.
In den 1980er Jahren bricht zunächst in Schurtenbergers Ölmalerei eine bis dahin in seinem Inneren angesammelte Parallelwelt auf den Bildern hervor: Szenen mit auffälligen Typen und absurden Geschehnissen, erotische Frauen, die ihn in seine Jugendzeit zurückführen, sind ihm wichtige Sammelstücke der Erinnerung. Seit den späten 1990er Jahren inventarisiert er sie mittels Tempera. Scheinbar automatisch, mit lockerem abkürzendem Pinsel, mehr zeichnend als malend, lässt er seine oft phantastische, surreale Bildwelt nun aufs Papier fliessen.
Die Bleistiftzeichnung verschwindet nicht ganz aus seinem künstlerischen Repertoire. Dennoch setzt er sich nun auch darin völlig über äussere und eigene Konventionen der „korrekten“ Darstellung hinweg.
Gabrielle Schaad