Während einem Atelieraufenthalt im Istituto Svizzero in Rom (1969–1970) entstehen Claude Sandoz’ erste Radierungen. Nachdem er im bernischen Stettlen hauptsächlich grossformatige Bleistiftzeichnungen nach neapolitanischen Marionetten anfertigte, befreit er sich in diesem Medium von seinen eigenen zeichnerischen Vorgaben und erschliesst sich so eine neue Sprache. Als ihn sein Mitstipendiat Johannes Gachnang (1939–2005) in die Technik einführt, schliesst er gerade eine künstlerische Recherche zu Gebissen und Zahnarztausstattungen ab (vgl. KML GH 83.48z), die ein leidvoller Zahnarztbesuch in Karachi motivierte. Davon zeugt ein Einzelblatt mit der Abbildung dreier zahntechnischer Gebissmodelle vor der Kulisse des römischen „Monumento Vittorio Emmanuele II“ – im Volksmund auch „Schreibmaschine“ oder „Gebiss“ genannt. In der eingeführten sprachlich-visuellen Mehrdeutigkeit nimmt Sandoz die vexierbildartige Lesbarkeit seiner späteren, ornamental geprägten Bildkompositionen bereits vorweg.
Der wenig später entstandene und nach seinem damaligen Aufenthaltsort Rom benannte 14teilige Radierungszyklus geht zwei weiteren Serien mit den Entstehungsorten Bern und Amsterdam voran. Auf den römischen Blättern finden sich schemenhafte bis deutlich umrissene Hunde, Geparde oder andere Tiere. Die liegenden, lauernden, streunenden oder kämpfenden Tiergestalten sind von dichten, frei gezogenen bis geometrisierten lose verteilten Linienbündeln überlagert. Dabei zeigt sich eine äusserst flächige Behandlung des Bildraumes, der durch die linearen Überlagerungen in Schichten zerfällt. Besonders auffällig ist die von Sandoz häufig eingesetzte Parallelperspektive. In den dadurch entstehenden Gittermustern zeichnen sich schliesslich die kubischen Volumina von Käfigen ab. Die Strukturierung des Bildträgers erinnert an japanische Farbholzschnitte, die eine Illusion räumlicher Tiefe durch sich überlagernde, aus dem Bild hinausreichende Gegenstände sowie in neben- oder hintereinander gestellten Szenen evozieren.
Weil auf allen Blättern fette, nachdrücklich gezogene Liniennetze abrupt im Bildfeld enden oder darüber hinaus unregelmässig vorkragen, wirken die Radierungen in technischer Hinsicht oft geradezu dilettantisch. Tatsächlich handelt es sich um Sandoz’ erste druckgrafische Versuche. Dennoch dilettiert er hier bewusst und auf hohem Niveau. Obwohl monochrom, gibt das Muster der unterschiedlichen Schraffierungen und Schattierungen verschiedene Tonwerte an. Der oft aggressiv im Bild platzierte Strich transportiert dabei Gewalt und Bedrohung, die von den eingesperrten Raubkatzen und Hunden ausgehen. So dekorativ die vor- und überlagerten Gitterzellengebilde zunächst wirken, so beklemmend erscheinen sie bei näherer Betrachtung. Rückblickend sind die Käfige dem Künstler Sinnbild einer Schaffenskrise, die er in der kulturhistorisch überdeterminierten Metropole damals erlebt. Zugleich markiert die Serie den Beginn einer immer stärker auf Mehrteiligkeit und Akkumulation ausgerichteten, künstlerischen Praxis. Während die Tiere bisweilen Comicfiguren ähneln, zeichnet sich unter der dichten Schraffur meist auch die Silhouette einer Palme ab. Die Palme ruft das südliche Ambiente des Zoos auf dem weitläufigen Parkhügel der Villa Borghese in Erinnerung, das Sandoz zu dieser Werkreihe inspirierte. Die Art und Weise wie die Palme darin versatzstückartig auftritt, erinnert aber auch an Arbeiten seines Zürcher Zeitgenossen Friedrich Kuhn (1926–1972): Für Kuhns Werk wird die Palme 1969 in der legendären „Palmenausstellung“ oder der poppig inszenierten „Palmistenaktion“ emblematisch. In ihrem Essay von 1965 „One Culture and the New Sensibility“ macht Susan Sontag „[…] die Entdeckung und Ausbeutung neuer Materialien und Methoden aus der Welt der Nicht-Kunst – zum Beispiel aus dem Bereich der industriellen Technik, der kommerziellen Prozesse und Vorstellungen sowie aus dem Bereich rein privater und subjektiver Phantasien und Träume […]“ als relevante künstlerische Praxis aus. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass Claude Sandoz im standardisierten Tourismus-Symbol „Palme“ den südlichen Mythos damals ebenso konsumkritisch-augenzwinkernd zitiert wie Kuhn.
Gabrielle Schaad