Das 1970 entstandene Blatt zeigt Lüthi in drei verschiedenen Künstler-Rollen, jedes Mal anders gekleidet. Links „mit Land-Art“, ein Häufchen Erde in seiner Hand präsentierend, in der Mitte vor einem an eine Wand angebrachten, einfachen architektonischen Element sitzend, ein reduziertes aus ärmlichen Material bestehendes Fundstück wie es die „Arte-Povera“-Künstler gerne für ihre Werke verwenden, und rechts schliesslich „Lüthi’s Concept“, der Künstler in der Denkerpose. In die gleiche Phase der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Tradition einerseits und dem zeitgenössischen Diskurs andererseits gehören die „Selbstbildnisse nach grossen Meistern des 20. Jahrhunderts“. Es sind sechs Selbstporträts und zwar jeweils in einer anderen Handschrift gezeichnet. Der Reihe von Lüthis Heroen Paul Cézanne, Pablo Picasso, Amedeo Modigliani, Alberto Giacometti, Roy Liechtenstein und Larry Rivers fügte er als siebtes Blatt eine Fotografie an, die er in einem Passbildautomaten aufgenommen hatte. Diese Phase der formalen Recherche erscheint uns heute wie der Weg zu einer inhaltlichen Synthese, die schliesslich seinen das ganze nachfolgende Schaffen prägen sollte: Lüthi selbst als ausschliessliches Motiv seiner Kunst.
Das Blatt mit den drei Ansichten unterschiedlicher künstlerischer „Stile“ markiert denn auch genau den Übergang seiner eigenen Beschäftigung mit der Arte-Povera, der Land-Art und der Konzeptkunst, die in die Jahre 1968 bis 1970 fällt, zum „Ich“ als Leitmotiv seines Schaffens. In diesem Sinne ist das Blatt nicht ironisch zu verstehen, sondern als Schlussstrich. Denn während diesen zwei Jahren zeigte Lüthi in mehreren Ausstellungen konzeptuelle Arbeiten und Installationen, die ganz den Attitüden der Zeit verpflichtet waren. In der Galerie Palette in Zürich 1969 beispielsweise war eine Installation aus einem sechsteiligen Neonröhren-Raster, dessen Felder mit Isolationsmaterial gefüllt waren, oder eine Lichterkette, deren Aufleuchten und Ablöschen durch ein Metronom gesteuert wurde, zu sehen. Im gleichen Jahr ist er zur Ausstellung „Pläne und Projekte als Kunst“ in der Kunsthalle Bern eingeladen. Die Ausstellung wird danach in veränderter Zusammenstellung unter dem Titel „Künstler machen Pläne, andere auch!“ in Hamburg gezeigt. Hier stellte er Konzeptarbeiten vor, etwa jenes der „Ballungszentren“ – schwarze Halbkugeln aus einem weichen Kunststoff, die an öffentlichen Plätzen, und in kleinerer Ausführung im Privatbereich, zum Abbau von Aggressionen aufgestellt werden sollten – oder „Urs Lüthis Alterungsprozess“, eine Untersuchung mit Fotografien, Berechnungen und schematischen Darstellungen, die David Weiss über Urs Lüthi verfasst hatte. Diese Arbeiten mögen auch die Motivation des damaligen Kurators des Kunstmuseums Luzern, Jean-Christophe Ammann, gewesen sein, Lüthi 1970 für die Ausstellung „Visualisierte Denkprozesse“ einzuladen.
Das würde erklären, wieso im Ausstellungskatalog zu dieser Ausstellung eine Rezension Ammanns über Lüthis „Arte-Povera“-Arbeiten abgedruckt ist. Zur Ausstellungseröffnung hatte der Künstler diese Phase jedoch bereits abgeschlossen.
Christoph Lichtin