Im Winter 1910 besucht Reinhold Kündig zusammen mit seinem Freund Hermann Huber die Kunstmetropole Paris. Die Fauves, deren Werke er zum ersten Mal im Original sieht, hinterlassen beim jungen Zürcher Künstler tiefen Eindruck. Nach der Rückkehr in die Schweiz setzt eine kurze, expressive Werkphase ein, die Kündig rückblickend zwar kritisch kommentiert, aus heutiger Sicht aber einen Höhepunkt in seinem Œuvre darstellt.
Das vorliegende kleine Landschaftsgemälde aus jener Zeit zeigt die Charakteristiken der Periode des „wild gewordenen“ Kündig deutlich. Das Kolorit, zuvor noch tonig gedämpft, gewinnt an Leuchtkraft. Die Komplementärfarben Hellblau und Orange-Gelb sind in kräftig pastosen Pinselstrichen auf die Leinwand aufgetragen. Die Hügelzüge und Bergketten nähern sich einer dekorativen Abstraktion. "Es muss Fläche an Fläche gesetzt werden, zusammengefasst nicht nach dem Material sondern wie es optisch wirkt auf das Auge als Eindruck", schreibt Kündig 1910 in sein Tagebuch. Die aneinander gereihten Formen in Gelb, Orange und Rotbraun unterscheiden auch hier nicht wirklich zwischen Wiese, Hang oder Baumgruppen und erscheinen als nicht eindeutig zuzuordnende Farbflächen, die lediglich durch kurze, breite Pinselstriche strukturiert werden. Diese wiederum verraten Van Gogh als Vorbild, der "sich seiner Sache so ausschliesslich hingab" (Tagebuch Kündig 1910).
Zwei Jahre später beurteilt Kündig seine "abstrakte" Malerei als problematisch. Durch die ihm eigene stark irdisch-sinnliche Natur im Malen, neige er stark zum Realistischen und Greifbaren, was der Gegensatz vom Abstrakten sei. "Meine abstrakte Malerei hatte keinen guten Grund und ich ging ohne Ziel vor." Nachdem er eine ähnliche Neigung zur sinnlich wahrgenommenen Natur bei Courbet beobachtet, akzeptiert Kündig dieses Faktum, was der bisher unschlüssig Schwankende als eine Art Befreiung empfunden haben dürfte. Während den folgenden 60 Schaffensjahren weicht der Künstler jedenfalls nicht mehr von dem einmal eingeschlagenen Pfad ab.
So unterschiedlich die beiden Werkphasen auch sein mögen, gibt es doch viel Gemeinsames. So kündet die vorliegende Landschaft bereits von Kündigs Vorliebe für gestaffelte bis zu den fernen Höhenzügen im Hintergrund reichende Landschaftsausschnitte, wobei das Geographische nie ausschlaggebend ist. Die Landschaften, die meistens in unmittelbarer Umgebung zu seinen verschiedenen Wohnstätten entstehen, sind nie reines Abbild, sondern durch eigene Gesetze bestimmt. Eine Beschränkung der Anzahl verwendeter Farbtuben, sowie die von der Farbe und nicht der Form her gedachte Gestaltung ist beiden Schaffensperioden eigen. Die wichtigste Konstante in seinem Schaffen überhaupt ist aber die Verehrung der Natur. Auf die Frage, warum er zu malen angefangen habe, antwortet Kündig in einer Einleitung zum Ausstellungskatalog des Helmhaus Zürich 1962, um "der grossen, rätselhaften und schönen Spur der Schöpfung zu folgen."
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