Im Œuvre des Künstlers Johann Baptist Marzohl befinden sich neben vielen sorgfältig gearbeiteten Veduten auch unzählige Studien. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts meistens ausklammernd übte sich der Autodidakt mit Hilfe von Bleistift und Aquarell-Farben an Pflanzen und Steinen, an ruinenhaften Architekturstücken, an verstohlenen Naturausschnitten und vor allem an grosszügigen Landschaftsausblicken. Letztere schuf der stark mit seiner Luzerner Heimat verwurzelte Bäckersgeselle nicht nur von der unmittelbaren Umgebung, sondern auch von der fernen Italienischen Campagna, die er mehrmals bereiste. Ob das Anfertigen von Studien wie bei dem bekannten Innerschweizer Künstler Robert Zünd, der für kurze Zeit von Marzohls Schüler Joseph Zelger unterrichtet wurde, zur Vorarbeit für konkrete Werke diente, ist mangels Beispielen zu bezweifeln. Ganz sicher aber waren sie künstlerische Geläufigkeitsübungen, die sein Beobachtungsvermögen und seine Gestaltungskraft bildeten und dadurch einen grossen Einfluss auf die endgültige Bildfindung hatten.
Am 29. März 1830 zeichnete Marzohl das vorliegende Blatt und datierte es in der linken unteren Ecke. Mit dieser Datierung sticht es unter den anderen Studien hervor, denn nur bei wenigen Werken hat der Künstler die Entstehungszeit festgehalten – was darauf hinweisen mag, dass Marzohl gerade diese Zeichnung für besonders geglückt hielt. In gedeckten Farben zeigt sich ein kleiner Einblick in die Flora einer gebirgigen Landschaft. Der Winter ist vorbei, der Frühling noch nicht da, die Natur befindet sich in einem blassen Übergangsstatus. Auf welkem Untergrund wächst ein knorriger Baum, dessen verwachsene Form sich aus der linken unteren Blatthälfte heraus an der Diagonalen des Blattes entlang nach oben erstreckt. Die krumme Gestalt des Stammes, der teilweise entrindet und mit Moosen, Pilzen und Efeu überwuchert ist, verrät zerstörerische Kräfte, die wohl einst den Wuchs der Pflanze nachhaltig geschädigt haben. Ob der Baum von der Wucht eines Steinschlages oder einer Lawine getroffen wurde? Dazu im Kontrast stehend recken sich im Mittelgrund gesunde, junge Bäume dem Himmel entgegen. Der Bildhintergrund bleibt leer. In der vorliegenden Studie ging es Marzohl nicht darum, einen Gesamteindruck der Natur zu schildern, sondern um den Blick auf diesen einen Baum. Indem Marzohl ihn vereinzelte, das heisst aus dem grösseren Kontext der Landschaft herauslöste, und seine Gestaltung mit sorgfältigem Pinselduktus vornahm, erzeugte er den Anschein einer botanischen Genauigkeit, die jedoch nicht gegeben ist: Der Baum – sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine Birke, aber auch eine Silberpappel ist denkbar – ist nicht eindeutig bestimmbar. Dennoch beruht die Zeichnung nicht auf einer willkürlichen Interpretation des Künstlers. Denn während sich die Kunstschaffenden im 18. Jahrhundert nach dem Ideal der idyllischen – und somit auch fiktiven – Landschaft verzehrten, orientierte sich Marzohl hier, wie zu seiner Zeit üblich, an einer eher naturgetreuen Abbildung. Von einer impressionistischen Unmittelbarkeit noch weit entfernt, ist die Studie an den vorherrschenden Sachverhalt gebunden, versucht diesen aber nicht zu kopieren – das Werk schildert eine stimmige Naturerscheinung, die sich an der Realität entlang tastet, ohne sie nachahmen zu wollen.
Denise Frey