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Description
Die zwischen 1975 und 1977 entstandene Arbeit „Gesang der Schreitsockel“ des deutschen Künstlers Franz Erhard Walther besteht aus 55 rechteckigen, hölzernen Elementen, die mit einem groben, schlammgrünen Baumwollstoff überzogen sind und in ihrer Länge zwischen rund 30 und 500 Zentimeter variieren. Die einzelnen Bestandteile der Installation haben alle jeweils eine 9.5 Zentimeter hohe Seitenwand, die sich bei einigen Elementen in einer oder beiden Stirnseiten fortsetzt. Die derart geformten Elemente bilden die Eckstücke der ausgelegten Installation. Die einzelnen Bahnen sind in diesem Sinne als Bauelemente zu beschreiben, die durch die Auslegung oder durch die Stapelung am Boden der Gesamtinstallation eine variable Grösse verleihen. Der Charakter der künstlerischen Arbeit wird hierbei wesentlich durch die Bedeutung von Farbe, Materialität und Massstab bestimmt und zeugt von der, Walthers gesamten künstlerischen Schaffen innewohnenden Konzentration auf diese elementaren Dinge.
Die skulpturale Installation „Gesang der Schreitsockel“ zeugt vom sogenannten 'erweiterten Werkbegriff', den Walther in den 1960er Jahren konzipierte und der für sein gesamtes künstlerisches Schaffen prägend sein sollte. Die zentrale Prämisse dieser Begriffsfindung ist die Auflösung einer tradierten Vorstellung zum Verhältnis zwischen dem Kunstwerk und der Betrachterin, dem Betrachter. Das Kunstwerk erscheint nicht länger als vollendetes, autonomes Objekt, das vom Menschen primär eine betrachtende Position verlangt, sondern konzipiert sich als offene, variable Form, die in ihrem Formungsprozess wesentlich nach der Partizipation eines Rezipienten verlangt. Bereits die textilen Objekte des „1. Werksatzes“ (1963–1969) forderten vom Betrachter eine Reihe von expliziten Handlungen und emanzipieren ihn in diesem Sinne von seiner passiven Rolle. Die Handlung am Werk, die 'Werkhandlung' wird zum genuinen Bestandteil der künstlerischen Arbeit; der klar umgrenzte Werkbegriff wird aufgelöst. Seit den frühen 1970er Jahren werden die physischen Handlungsmöglichkeiten in Walthers Arbeiten geringer und beschränken sich schon im „2. Werksatz“ (1972) – ein aus 42 auslegbaren Stoffbahnen bestehendes Werk – auf die Bewegung des seitwärts an den Bahnen Entlanggehens. Die parallel dazu vollzogene Verlagerung der Werke vom Freien in Innenräume verkürzt die physisch zurücklegbaren Strecken, blosse Blickverschiebungen der Rezipienten werden zentral. Bedingt auch durch den nun skulpturalen, ja architektonischen Charakter der Arbeiten tritt die visuelle Vorstellung, die Imagination einer Handlung immer mehr an die Stelle der real vollzogenen Handlung, die Handlungsmöglichkeit wird gleichsam in der installativen Anordnung des Werkes offenbar.
Dem „Gesang der Schreitsockel“ ist sowohl die körperliche als auch die geistige Beteiligung des Rezipienten immanent. Die ausgelegten „Schreitsockel“ implizieren in ihrer Form und in ihren Dimensionen einerseits ein reales Abschreiten oder Begehen der baumwollbespannten Holzelemente und andererseits ebenso die visuelle Vorstellung einer solchen Werkhandlung. Neben der offenen, handlungsbezogenen Auslegung manifestiert sich in den „Schreitsockeln“ zudem ein weiteres, zentrales künstlerisches Konzept von Walther. Der von ihm konzipierte Begriff der 'Lagerform' bezieht sich auf die gestapelte Anordnung der „Schreitsockel“ und erweitert in diesem Sinne die Ebene des Werkstatus. Während die 'Lagerform' beispielsweise bei den Objekten des „1. Werksatzes“ gegenüber dem eigentlichen Gebrauch lediglich sekundär war, ist die künstlerische Eigenständigkeit dieses Werkstatus bei den „Schreitsockeln“ evident. Im Zuge der Neupräsentation der Installation im Kunstmuseum Luzern im Herbst 2010 nimmt der Künstler zudem eine konkrete Abgrenzung zu den rein textilen Arbeiten vor und benennt die ursprünglich mit „Gesang der Schreitbahnen“ betitelte Arbeit neu. So zeugt der Begriff der „Schreitsockel“ sowohl von der veränderten Materialität der Elemente und der damit einhergehenden neuen Variationen der 'Lagerform' als auch von der Fokussierung des skulpturalen Charakters der Installation.
Anlässlich der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern wird Franz Erhard Walthers „Gesang der Schreitsockeln“ sowohl in der gestapelten Anordnung der 'Lagerform' als auch in der variablen, auf Handlung bezogenen Auslegung präsentiert. Dieses erstmalige Gegenüberstellen der beiden Werkstatus offenbart den mehrformigen, polyfunktionalen Charakter der Arbeit, die auf verschiedene räumliche Kontexte zu reagieren vermag und den Rezipienten, die Rezipientin sowohl zu einer Erfahrung der Ausstellungsräume als auch zu einer Werkhandlung auffordert. Diese exemplarische Beschäftigung mit dem Werkstatus und der damit einhergehende Bruch mit tradierten Vorstellungen über den Begriff des Kunstwerks oder die Rolle des Betrachters machen die künstlerische Bedeutung der Arbeit aus.
Gioia Dal Molin
Provenance
Kunstmuseum Luzern, 1992
Eingangsjahr: 1992
Exhibition History
Franz Erhard Walther. Gesang der Schreitsockel, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 30.10.2010 - 06.02.2011
Landpartie. Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern auf Reisen im Kanton, Schüpfheim, Entlebucher Kulturzentrum, 31.10.1998 - 22.11.1998
PROSPECT/RETROSPECT. Zeitgenössische Kunst aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 15.10.1994 - 27.11.1994
Franz Erhard Walther. Übergänge seitlich. Innenmodellierung, Luzern, Kunstmuseum, 22.02.1992 - 26.04.1992
Franz Erhard Walther. The Body Defines the Architecture, Mudam Muse d'art moderne, Luxembourg, 06.03.2015 - 31.05.2015
Franz Erhard Walther, de l'origine de la sculpture, 1958–2009, Genf, Mamco - Musée d'art moderne et contemporain, 17.02.2010 - 02.05.2010
Bibliographie
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Landpartie - Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern auf Reisen im Kanton, mit Texten von Jean-Christophe Ammann, Theo Kneubühler, Ulrich Loock und André Rogger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1998
Oehen, Berta, "Zeit des Aufbruchs. Das Kunstmuseum Luzern zeigt im Rathaus Willisau Skulpturen und Installationen aus den sechziger und siebziger Jahren", in: Willisauer Bote, Nr. 164, 27. Oktober 1998, S. 17