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Description
Giacometti wandte sich immer wieder gegen das Malen aus der Erinnerung. Stattdessen forderte er das unmittelbare Erlebnis und zog es vor, mit der Staffelei in der freien Natur zu arbeiten. Er hatte deshalb jedes Jahr unter den langen und dunklen Wintern zu leiden. So schreibt er am 3. April 1901 an seinen Freund Amiet: „Ich habe den ganzen Winter lang kein Strich im Freien machen können, es war scheusslich. Ich hatte dann auch die Gelegenheit die Erfahrung zu machen dass mein ‚Atelier’ punkto Licht ein miserables ist. Das ist der Grund warum ich auch ein Portrait Annetta’s, an dem ich in den ersten Monaten herumarbeitete, aufstecken musste. (…) Gegenwärtig male ich (…) an einem Interieur mit Lampenlicht. Es ist, fast möchte ich sagen, eine Gedächtniss Studie. Gehe hie und da am Abend an Ort und Stelle und sehe mir die Sache an, mache etwa eine Zeichnung um etwas besser zu behalten, und am Tage packe ich dann die Beobachtungen aus. Ich bin weit entfernt, diese Art zu malen, als mein Prinzip aufzustellen, und ich zapple vor Ungeduld wieder direct an der grossen, schönen Natur saugen zu dürfen. Dieses Studium aber hat auch Vorteile. Vor allem schärft es die Beobachtungsgabe. Man lernt dabei beobachten und gewisse Sachen die sonst entgehen würden, werden schärfer aufgefasst.“
Beim in diesem Brief erwähnten Interieur handelt es sich um das Gemälde „Veglia“ (Museo Ciäsa Grande, Stampa), welches zu einer Reihe von Werken zählt, die allesamt Figurengruppen in dunklen, nur von künstlichem Licht erleuchteten Innenräumen zeigen. In einer biographischen Notiz aus dem Jahre 1918 fasste er diese Interieurs, in denen er die „Wirkungen des Lampenlichts“ untersuchte, bereits als zusammenhängende Gruppe zusammen: nebst dem 1901 entstandenen „Veglia“ gehören auch das aus dem Jahre 1912 stammende Gemälde „Die Lampe“ (Kunsthaus, Zürich), das im Winter 1916/1917 entstandene „Cinchina“ (Privatbesitz) und auch das zur Sammlung des Kunstmuseums Luzern gehörende Gemälde „Nell’Osteria“ dazu.
Bei den genannten Werken ist nicht nur der Bildgegenstand ein ähnlicher; die erhaltenen Studien in Bleistift, Feder und Öl lassen vermuten, dass sie auch in einem ähnlichen Arbeitsprozess entstanden sind: Giacometti, der sonst eben gerade die unmittelbare und spontane Konfrontation mit seinem Bildgegenstand suchte und dementsprechend nur selten vorbereitende Studien zu Gemälden anfertigte, war in diesen Fällen durch die Umstände gezwungen, seine Arbeitsweise zu ändern. Wie er es im oben zitierten Brief an Amiet beschreibt, wird er sich am Abend in die Wirtschaft begeben haben, um mit schnellen Strichen seine Beobachtungen und Empfindungen festzuhalten. Das Übertragen in Öl und auf grössere Formate scheint dann ein langwieriger, genau durchdachter Arbeitsvorgang gewesen zu sein.
Zum Gemälde „Nell’Osteria“, welches Giacometti in den von Isolation geprägten Kriegsjahren angefertigt hat, sind drei Studien erhalten. Anhand dieser Blätter kann man nachvollziehen, dass der Maler die ganz am rechten Bildrand sitzende Figur zuerst in Frontalansicht und als den Betrachter anblickend konzipiert hat. Im Gemälde hingegen wendet sich der dargestellte Mann mit Körper und Blick leicht nach links.
Das fertige Gemälde zeigt, dass Giacometti sich während der Kriegsjahre von der expressiven Malweise der kurzen, locker nebeneinander gesetzten Pinselstriche gelöst hat. Stattdessen wirkt der Farbauftrag an einigen Stellen fast flächig. Ebenfalls gut sichtbar ist in diesem Gemälde Giacomettis Bemühen, die Farbe nicht um ihretwillen, sondern vielmehr im Dienste des Lichts und damit formbildend einzusetzen: „(…) und ich bin noch immer davon überzeugt, dass für den Maler alles durch das Licht existiert. Für mich ist die Farbe vielmehr Ausdruck des Lichts als dekoratives Motiv gewesen“ (an Daniel Baud-Bovy, 5. Sept. 1917). Gerade auf der Jacke des uns so auffallend den Rücken zukehrenden Mannes wird sichtbar, dass die violetten und roten Pinselstriche dazu eingesetzt werden, die Lichtreflexe auf dem dunkelbraunen Stoff wiederzugeben und damit auch den Körper des Mannes zu modellieren.
Barbara von Flüe
Provenance
Kunstmuseum Luzern, Sammlung Alfred Rütschi, Zürich. Erworben 1931 von der Galerie Fischer.
Eingangsjahr: 1931
Exhibition History
Sechste Ausstellung der Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten, Zürich, Kunsthaus Zürich, 03.10.1915 - 31.10.1915
Der Lesesaal. Werke aus der Sammlung von Hodler, Augusto und Giovanni Giacometti, Amiet, Vallotton, Markowitsch, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 06.05.2006 - 27.08.2006
Giovanni Giacometti, Zürich, Galerie Aktuaryus Zürich, 23.10.1927 - 30.11.1927
Hodler. Amiet. Giacometti. Werke aus Innerschweizer Sammlungen, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 10.07.2010 - 10.10.2010
Ernest Bolens, Giovanni Giacometti (u.a.), Zürich, Kunsthaus Zürich, 10.05.1922 - 07.06.1922
Giovanni Giacometti, Chur, Rätisches Volkshaus Chur, 19.12.1920 - 21.01.1921
Giovanni Giacometti. Artistes fribourgeois., Bern, Kunsthalle Bern, 25.09.1920 - 24.10.1920
PROJEKT SAMMLUNG. Meisterwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 26.06.1994 - 11.09.1994
Basler Künstlergesellschaft, Basel, Kunsthalle Basel, 13.07.1980 - 14.09.1980
Sigismund Righini: Ein Maler zwischen Jugendstil und Moderne, Solothurn; Kunstmuseum Solothurn, 29.11.2003 - 29.02.2004
April-Ausstellung. Ernst Geiger, Giovanni Giacometti, Ferdinand Hodler (u.a.), Basel, Kunsthalle Basel, 05.04.1915 - 25.04.1915
Giovanni Giacometti, Chur, Kunsthaus Chur, 26.04.1930 - 11.05.1930
Jubiläumsausstellung Giovanni Giacometti 1868–1933, Chur, Kunsthaus Chur, 12.05.1968 - 30.06.1968
Cuno Amiet. Giovanni Giacometti., Winterthur, Kunstmuseum Winterthur, 06.05.1917 - 31.05.1917
Giovanni Giacometti. Niklaus Stoecklin. Albert Müller, Basel, Kunsthalle Basel, 09.11.1929 - 05.12.1920
Gemäldeausstellung Bündnerischer Künstler, Chur, Rätisches Volkshaus, 15.10.1916 - 29.10.1915
Giovanni Giacometti. Gedächtnisausstellung Paul Altherr, Basel, Kunsthalle Basel, 08.02.1930 - 02.03.1930
Giovanni Giacometti: Farbe im Licht, Bern, Kunstmuseum Bern, 30.10.2009 - 21.02.2010
Bibliographie
Bern, Kunstmuseum Bern/Chur, Bündner Kunstmuseum (Ausst.-Kat.), Giovanni Giacometti. Farbe im Licht, hrsg. von Therese Bhattacharya et al., Zürich: Scheidegger & Spiess, 2009
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Radlach, Viola (Hrsg.), Giovanni Giacometti. Briefwechsel mit seinen Eltern, Freunden und Sammlern, eine Publikation des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2003
Radlach, Viola (Hrsg.), Cuno Amiet. Giovanni Giacometti. Briefwechsel, eine Publikation des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft, Zürich: Scheidegger und Spiess, 2000
Müller, Paul/Radlach, Viola, Giovanni Giacometti 1868-1933, Werkkatalog der Gemälde Bd. II-2, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, 1997 (Oeuvrekataloge Schweizer Künstler 16/II-2)
Stutzer, Beat, "Giovanni Giacometti - Zur Sammlungsgeschichte", in: Müller, Paul/Radlach, Viola, Giovanni Giacometti 1868-1933, Werkkatalog der Gemälde Bd. II-1, Zürich: SIK, 1997, S. 2-53
Müller, Paul/Radlach, Viola, Giovanni Giacometti 1868-1933, Werkkatalog der Gemälde Bd. II-1, mit Beiträgen von Danièle Gros und Beat Stutzer, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, 1997 (Oeuvrekataloge Schweizer Künstler 16/II-1)
Bühlmann, Karl, "175 Jahre Kunstgesellschaft Luzern.", in: Luzerner Neuste Nachrichten, Beilage, 23. Juni 1994, S. 1-7
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983
Köhler, Elisabeth Esther, Giovanni Giacometti 1868 - 1933. Leben und Werk, Zürich: Fischer-Druck + Verlag, 1969
Jubiläumsausstellung Giovanni Giacometti 1868 - 1933, Chur, Kunsthaus Chur, 1968
Stampa, Renato, "Per il centenario della nascità di Giovanni Giacometti", in: Quaderni Grigion-italiani (Poschiavo), Jg.37, Nr.2, April 1968, S. 118-132
Reinle, Adolf, Das Luzerner Kunstmuseum. Ein Führer durch die Sammlung, hrsg. vom Stadtarchiv Luzern und einer vom Stadtrat bestellten Kommission, Luzern: Kommissionsverlag Eugen Haag, 1958
Beuttner, Paul (Hrsg.), Kameraden der Arbeit. Ein Buch der werkgläubigen Kultur, mit Texten von Paul Hilber, Eugen Wyler (et al.), Weinfelden: ohne Verlag, 1942
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Die Erwerbungen der Bernhard-Eglin-Stiftung, mit einem Vorwort von Paul Hilber, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1935
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Delachaux, Theodor, "Die Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten. Ein geschichtlicher Rückblick bei Anlass ihres 50jährigen Bestehens", in: Werk (Bümpliz-Bern), Jg.2, Heft 10, 1915, S. 155