Berlinde De Bruyckere, 1 Einträge
Berlinde De Bruyckere wird 1964 im belgischen Gent geboren. Ausgebildet in Malerei an der Kunsthochschule Sint-Lucas in ihrer Geburtsstadt, erregt sie schon kurz nach ihrem Abschluss Aufsehen mit karg anmutenden, an die Arte Povera angelehnten Skulpturen. Diese Arbeiten aus den frühen 1990er Jahren bestehen oft aus nicht mehr als aus gebrauchten Wolldecken, die die Künstlerin auf Tischen und Betten stapelt oder über Stühle drapiert. Erschüttert durch die Bilder von Kriegsflüchtlingen im afrikanischen Ruanda, beginnt De Bruyckere 1994 die frühen Skulpturen durch Wachselemente zu erweitern und schafft aus der Kombination von Wachs und Wolldecken Figuren, die an die menschlichen Tragödien des Krieges erinnern. Diese von der Künstlerin als „blanket women“ bezeichneten Figuren mit wächsernen Gliedmassen evozieren beim Betrachter ambivalente Gefühle, die zwischen Geborgenheit und Sicherheit einerseits und Beunruhigung und Beklemmung andererseits oszillieren und in diesem Sinne bereits eine für De Bruyckeres gesamtes späteres künstlerisches Schaffen zentrale Charakteristika visualisieren.
Im Laufe ihrer künstlerischen Tätigkeit werden De Bruyckeres skulpturale Figuren differenzierter, an die Stelle der Torsi aus Wolldecken tritt eine – im wahrsten Sinne des Wortes – wächserne Körperlichkeit. Werke wie die lebensgrosse Wachsskulptur „Robin V.“ (vgl. KML 2007.61w) oder die Serie der „Schmerzensmänner“ von 2006 zeigen ausgezehrte menschliche Körper; zugleich irritieren sie den Betrachter durch die Kombination von nicht zu definierenden menschlichen und vegetativen Gliedmassen. Inspiration für ihre Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und den mit diesem verbundenen christlichen Konnotationen findet die Künstlerin unter anderem bei der Kunst der Alten Meister. Die besondere, auf genauer Naturbeobachtung beruhende und oft durch eine religiöse Symbolik bestimmte Ästhetik der flämischen Malerei des 15. Jahrhunderts ist in ihrem künstlerischen Schaffen präsent und stellt letztlich eine Auseinandersetzung mit der heimischen Kunsttradition dar. De Bruyckere sucht den direkten Dialog mit der Kunst der Vergangenheit gezielt: So kombiniert sie ihre Skulpturen beispielsweise 2009 in der Ausstellung „We Are All Flesh“ bei Hauser & Wirth London mit Gemälden des italienischen Malers Luca Giordano (1632–1705). Durch das visuelle Aufeinandertreffen von Giordanos Heiligen Bartholomäus – abgebildet im Moment seines qualvollen Märtyrertodes – und De Bruyckeres wächsernen, seltsam verrenkten Körpergliedern öffnet sich ein Interpretationsraum, der Themen wie Leben und Sterben oder Leiden und Trost eine epochenübergreifende Relevanz attestiert und eine Verbindung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem schafft.
Neben der Beschäftigung mit dem fragmentierten menschlichen Körper setzt sich De Bruyckere auch mit der Figur des Pferdes auseinander. 2000 schafft sie für das belgische „Flanders Field Museum“, das an den Ersten Weltkrieg erinnert, fünf lebensgrosse Skulpturen, die Pferde im Todeskampf darstellen; 2003 stellt sie sich mit der Skulptur „Black Horse“ im italienischen Pavillon an der Biennale in Venedig der internationalen Kunstwelt. Ähnlich wie bei den menschlichen Figuren arbeitet die Künstlerin auch bei den Pferdeskulpturen mit Abgüssen, die sie in einer Veterinärklinik an Tierkadavern vornimmt. Indem sie bei den Werken auch die Haut und das Fell der Tiere verarbeitet, schafft De Bruyckere Skulpturen, die angesichts der grossen physischen Präsenz ihrer Materialität einerseits einen durchaus positiven, auch haptischen Effekt hervorrufen und andererseits beim Betrachter ein unheimliches Schauern auslösen.
De Bruyckeres Skulpturen sind oft das Resultat eines Zusammenfügens: indem die Künstlerin gefundenes oder gebrauchtes Material in ihrem künstlerischen Schaffen verarbeitet, entsteht ein neues Ganzes, das den materiellen Bestandteilen eine zusätzliche Bedeutung verleiht. Ihre Faszination für gebrauchte Objekte äussert sich auch darin, dass sie in vielen ihrer Werke eigens gesammelte Vitrinen oder Kästchen als zentralen Bestandteil integriert. Die gefundenen Vitrinen verleihen den Objekten De Bruyckeres jedoch nicht nur eine besondere Patina, sondern verweisen auch auf den von der Künstlerin bewusst intendierten Aspekt der Verletzlichkeit der Skulpturen. Indem De Bruyckere die ausgezehrten Wachsfiguren durch gläserne Vitrinen schützt, auf Kissen bettet oder gleichsam mit Wolldecken umhüllt, betont sie ihre Fragilität, ihre Verwundbarkeit. Der primäre, mitunter Schrecken und Gräuel evozierende Eindruck der Skulpturen wird dadurch mit viel Empathie aufgebrochen und Berlinde De Bruyckeres Wachsfiguren erscheinen plötzlich als feine Wesen, die mehr den je das enge Beisammensein von Leben und Sterben, von Schönheit und Schrecken in unserer Gesellschaft verkörpern.
Gioia Dal Molin
Im Laufe ihrer künstlerischen Tätigkeit werden De Bruyckeres skulpturale Figuren differenzierter, an die Stelle der Torsi aus Wolldecken tritt eine – im wahrsten Sinne des Wortes – wächserne Körperlichkeit. Werke wie die lebensgrosse Wachsskulptur „Robin V.“ (vgl. KML 2007.61w) oder die Serie der „Schmerzensmänner“ von 2006 zeigen ausgezehrte menschliche Körper; zugleich irritieren sie den Betrachter durch die Kombination von nicht zu definierenden menschlichen und vegetativen Gliedmassen. Inspiration für ihre Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und den mit diesem verbundenen christlichen Konnotationen findet die Künstlerin unter anderem bei der Kunst der Alten Meister. Die besondere, auf genauer Naturbeobachtung beruhende und oft durch eine religiöse Symbolik bestimmte Ästhetik der flämischen Malerei des 15. Jahrhunderts ist in ihrem künstlerischen Schaffen präsent und stellt letztlich eine Auseinandersetzung mit der heimischen Kunsttradition dar. De Bruyckere sucht den direkten Dialog mit der Kunst der Vergangenheit gezielt: So kombiniert sie ihre Skulpturen beispielsweise 2009 in der Ausstellung „We Are All Flesh“ bei Hauser & Wirth London mit Gemälden des italienischen Malers Luca Giordano (1632–1705). Durch das visuelle Aufeinandertreffen von Giordanos Heiligen Bartholomäus – abgebildet im Moment seines qualvollen Märtyrertodes – und De Bruyckeres wächsernen, seltsam verrenkten Körpergliedern öffnet sich ein Interpretationsraum, der Themen wie Leben und Sterben oder Leiden und Trost eine epochenübergreifende Relevanz attestiert und eine Verbindung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem schafft.
Neben der Beschäftigung mit dem fragmentierten menschlichen Körper setzt sich De Bruyckere auch mit der Figur des Pferdes auseinander. 2000 schafft sie für das belgische „Flanders Field Museum“, das an den Ersten Weltkrieg erinnert, fünf lebensgrosse Skulpturen, die Pferde im Todeskampf darstellen; 2003 stellt sie sich mit der Skulptur „Black Horse“ im italienischen Pavillon an der Biennale in Venedig der internationalen Kunstwelt. Ähnlich wie bei den menschlichen Figuren arbeitet die Künstlerin auch bei den Pferdeskulpturen mit Abgüssen, die sie in einer Veterinärklinik an Tierkadavern vornimmt. Indem sie bei den Werken auch die Haut und das Fell der Tiere verarbeitet, schafft De Bruyckere Skulpturen, die angesichts der grossen physischen Präsenz ihrer Materialität einerseits einen durchaus positiven, auch haptischen Effekt hervorrufen und andererseits beim Betrachter ein unheimliches Schauern auslösen.
De Bruyckeres Skulpturen sind oft das Resultat eines Zusammenfügens: indem die Künstlerin gefundenes oder gebrauchtes Material in ihrem künstlerischen Schaffen verarbeitet, entsteht ein neues Ganzes, das den materiellen Bestandteilen eine zusätzliche Bedeutung verleiht. Ihre Faszination für gebrauchte Objekte äussert sich auch darin, dass sie in vielen ihrer Werke eigens gesammelte Vitrinen oder Kästchen als zentralen Bestandteil integriert. Die gefundenen Vitrinen verleihen den Objekten De Bruyckeres jedoch nicht nur eine besondere Patina, sondern verweisen auch auf den von der Künstlerin bewusst intendierten Aspekt der Verletzlichkeit der Skulpturen. Indem De Bruyckere die ausgezehrten Wachsfiguren durch gläserne Vitrinen schützt, auf Kissen bettet oder gleichsam mit Wolldecken umhüllt, betont sie ihre Fragilität, ihre Verwundbarkeit. Der primäre, mitunter Schrecken und Gräuel evozierende Eindruck der Skulpturen wird dadurch mit viel Empathie aufgebrochen und Berlinde De Bruyckeres Wachsfiguren erscheinen plötzlich als feine Wesen, die mehr den je das enge Beisammensein von Leben und Sterben, von Schönheit und Schrecken in unserer Gesellschaft verkörpern.
Gioia Dal Molin
Halle, Stiftung Moritzburg/Bern, Kunstmuseum/Wien, Kunsthalle (Ausst.-Kat.), Mysterium Leib. Berlinde De Bruyckere im Dialog mit Cranach und Pasolini - Into One-Another. Berlinde De Bruyckere in Dialogue with Cranach and Pasolini, hrsg. von Cornelia Wieg, mit Texten von Hans Theys (et al.), München: Hirmer, 2011
Unterdörfer, Michaela (Hrsg.), Berlinde De Bruyckere. In the Woods there were Chainsaws, mit Texten von Berlinde de Bruyckere und Tommy Wieringa, Göttingen: Steidl Hauser & Wirth, 2008
Hertmans, Stefan/Theys, Hans (Hrsg.),, Schmerzensmann V. Een Sculptuur van Berlinde de Bruyckere, Gent: Tornado Editions, 2008