Ian Anülls Kleines Lager ist denkbar unaufwändig und nahezu unkünstlerisch: Ein brauner, vorn abgeschrägter Holzkasten birgt in seinen vier unterschiedlich grossen Fächern verschie¬den grosse Objekte aus Filz, Karton und Leinwand. Mit seiner schlichten Gestaltung erinnert das Werk an ein Regal für Waren in einem Baumarkt; dass der zweite Teil des Werktitels von hinten gelesen eben «Regal» heisst, wird bei Anüll wohl kein Zufall sein. Denn schon sein Künstlername entfaltet ja ein Spiel mit der Doppeldeutigkeit.
Die handwerklich-industrielle Gestaltung des Holzobjekts und seines Inhalts gemahnen über¬dies an die einfache, streng geometrische Formung von Gebrauchsgegenständen durch die russischen Konstruktivisten. Gemäss ihrem demokratisch-egalitären Kunstbegriff sollten Künstlerinnen und Künstler nicht mehr einsam im Atelier ringende Genies sein, sondern als Vordenkerinnen und Vordenker gut gestaltete Gebrauchsobjekte für die Massenproduktion entwerfen. Denn durch die gute Gestaltung seiner Umgebung, so der idealistische Ansatz, lasse sich der Mensch bessern. Diese Vorstellungen wurden durch Bewegungen wie das Bauhaus oder die Konkrete Kunst auch im Westen verbreitet und hier nach dem Zweiten Weltkrieg von Autoren wie Tom Wolfe in seinem Buch From Bauhaus to Our House (1981) durchaus kritisch beurteilt.
In diesem Licht birgt Ian Anülls unspektakuläres Objekt trotz seines kleinen Formats eine gros¬se Sprengkraft. Mit seiner schlichten Form und den einfachen Materialien zitiert es zwar die Gestaltung und damit die Ideen der linken Avantgarden vom Beginn des 20. Jahrhun¬derts, es bricht aber zugleich auf subversive Weise mit deren egalitären Ideen. Denn als einzigartiges Kunstwerk hat Anülls Objekt doch einen Marktwert, den eben nicht alle aufbringen könnten – wie es sich übrigens heute auch mit den Gebrauchsobjekten aus der Produktion des Bauhauses verhält. Neben diesem Verweis auf den schieren Wert verweist Anüll mit dem Kleinen Lager auch auf die mit der Kostbarkeit der Kunstwerke steigenden Sicherheitsstandarts bei ihrer Lagerung. Sie schaffen eine zusätzliche Distanz zu denjenigen, welche sich Kunst nicht leisten können. Wenige Jahre vor der Entstehung des Kleinen Lagers organisiert Ian Anüll denn auch eine Ausstellung mit Werken Arbeiten von Joseph Beuys, Guillaume Bijl, Daniel Buren, Les Levine, Hermann Nitsch, Dennis Oppenheim, Meret Oppenheim und Franz Erhard Walther in einem Banksafe. Der Verweis auf die Arbeiten von Beuys, Buren und Walther gibt einen weiteren Schlüssel zum Verständnis des Kleinen La¬gers. Denn mit Filz, gestreiftem Markisenstoff und farbigem, grobem Leinen haben diese drei Künstler ein Markenzeichen kreiert, das die Wiedererkennbarkeit und damit Verkäuflichkeit ihrer Werke auf dem Kunstmarkt erheblich steigert.
Mit dem unscheinbar daherkommenden Kleinen Lager legt Ian Anüll präzise und subversiv den Finger auf die Wunde der zahlreichen ausserkünstlerischen Bedingungen, die die Kunst jenseits idealistischer Vorstellungen über ihre Bedeutung heute bestimmen.
Heinz Stahlhut