Johannes Itten
Barmherziger Samariter
1915
Öl auf Leinwand
204 x 155 x 5 cm
signiert unten rechts: "Itten", und verso: oben links, mit schwarzer Farbe: "Itten"
Kunstmuseum Luzern, Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Gottfried Keller-Stiftung, Bern
Inv.-Nr. E 78x
2008, ProLitteris, Zurich
informationen
Werkbeschrieb
Der "Barmherzige Samariter" entsteht im Jahr 1915 in Stuttgart und zählt zu den Hauptwerken von Johannes Ittens erster Schaffensphase. Beruhend auf einer Erzählung aus dem Neuen Testament ist das Gleichnis des heiligen Samariters, in dem Mitleid und Barmherzigkeit überwiegen, dargestellt. Der Blick des Betrachters richtet sich auf die zentrale Dreifigurenkonstellation von Verwundetem, heiligem Samariter und Esel im Vordergrund. Eine Berglandschaft im Hintergrund schliesst das Gemälde ab.
In kubistisch anmutender Manier zerlegen sich die einzelnen Motive in sich vielfach überlagernde, rhythmisierende Kreis- und Dreiecksformen. Die spitzen Berge fügen sich zu einem strengen, kleinteiligen Raster, und die drei Figuren bilden durch einen angedeuteten Kreis eine geschlossene Gruppe. Dominiert wird das Gemälde von den Farbklängen Gelb, Purpurrot und Grau wie auch von starken Hell-Dunkel-Kontrasten. Das expressive Gelb und Purpurrot wird durch das Grau-Blau im Hintergrund zurückgebunden und durch das Grau des Esels ausgeglichen. Die kontrastreiche Farbstruktur wie auch die sich abwechselnden Formen von Dreieck und Kreis bewirken zugleich eine dynamische Spannung und eine harmonisierende Entspannung.
Die den Weg zur Abstraktion hinführende Formzerlegung und Farbgestaltung des "Barmherzigen Samariters" zeugen von den jüngsten Kunstströmungen des Kubismus, Expressionismus und Orphismus, doch die Ikonografie und Komposition verweisen auf eine lange Tradition religiöser Bildthemen. An der Sonderbund-Ausstellung in Köln von 1912 lernt Itten die aktuellen Kunsttendenzen des Blauen Reiters, des Kubismus oder diejenigen der Fauves kennen. Bereits in der Schweiz begegnet er Malerkollegen wie Otto Morach oder Arnold Brügger, die sich intensiv mit dem Kubismus beschäftigen. Geprägt wird der Maler vor allem durch seinen Lehrer Adolf Hölzel, der ihn von 1913 bis 16 unterrichtet und eine Farb- und Formenlehre wie auch Bildanalysen alter Meister wie Giotto, Grünewald, El Greco oder Cézanne an seiner Schule propagiert. Hölzel, der sich ebenfalls künstlerisch mit dem Gleichnis des heiligen Samariters auseinander gesetzt hat, vertritt die These, dass bildnerische Mittel wie Kontraste, Farbklänge oder rhythmische Verteilung von Schwerpunkten Träger der Bildinhalte sein sollen. Itten übernimmt markante Gestaltungsideen und Farbtöne alter Meister, strukturiert und reduziert sie jedoch auf elementare Formen und Farben von eigener Qualität. Ein philosophischer Inhalt, das Sichtbarmachen einer Weltanschauung wie auch der Empfindung ist grundlegend für seine Arbeiten: Dem Expressionismus entsprechend soll die Farbe das Gefühl steigern, die Kunst von persönlich Erlebtem ausgehen und zu einem Symbol des Ewiggültigen werden.
Individuell Erlebtes und Werk gehen bei Itten eine enge Verbindung ein: Das Gemälde des "Barmherzigen Samariters" ist während des ersten Weltkrieges entstanden. Kurz nach Kriegsausbruch sieht der Schweizer in Stuttgart viele Verwundete, die von der Westfront kamen. Von Mitgefühl und dem Wunsch zu helfen getragen, meldet sich der Maler im November 1914 als Freiwilliger bei der Frontsanität, wird jedoch vom Kriegsministerium abgewiesen. Im Gleichnis des Barmherzigen Samariters kann der Künstler seinen Gefühlen Ausdruck verleihen und diese verarbeiten. Der helfende Mensch – durch die von einem purpurnen Kreis umrundete, heilende Hand des Samariters versinnbildlicht – rückt ins Zentrum der Darstellung. Schmerz und Barmherzigkeit finden über die Blickrichtungen, der Schultern beider Figuren sowie über den Eselsrumpf zueinander. Durch Dreiecke und Kreise wie auch durch Farben, Komposition und Hervorheben der Protagonisten wird das Motiv des Schmerzes und Mitleids expressiv gesteigert und lassen den Betrachter leibhaftig am Geschehen teilnehmen.
Barbara Hatebur
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Gottfried Keller-Stiftung, Bern
Eingangsjahr:1983
Ausstellungsgeschichte
PROJEKT SAMMLUNG. Meisterwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 26.06.1994 - 11.09.1994
August Babberger. Zum 100. Geburtsjahr und 50. Todesjahr. Ein Zwiegespräch mit Hodler, Kirchner, Amiet, Augusto Giacometti und Danioth, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 22.06.1986 - 10.10.1986
Johannes Itten - Das Lebenswerk, Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum
Johannes Itten - Das Lebenswerk, Bern, Kunstmuseum Bern, 25.09.1984 - 18.11.1984
Johannes Itten - Das Lebenswerk, Stuttgart, Galerie der Stadt Stuttgart
Farbgeometrien aus der Sammlung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 15.12.2001 - 10.03.2002
Johannes Itten - Stuttgart, Wien, Weimar 1913–1923, Zürich, Kunsthaus Zürich, 18.10.1988 - 27.11.1988
Stiftung Anne-Marie und Victor Loeb, Bern, Kunsthalle Bern, 04.03.1978 - 09.04.1978
Johannes Itten, Thun, Kunstsammlung der Stadt Thun, Thunerhof, 23.06.1962 - 05.08.1962
Schweizer Meister. Sammlungsausstellung zum 75–Jahr–Jubiläum der Bernhard Eglin–Stiftung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 31.05.2008 - 20.10.2008
Itten – Klee. Kosmos Farbe, Bern, Kunstmuseum Bern, 30.11.2012 - 31.03.2013
Johannes Itten - Stuttgart, Wien, Weimar 1913–1923, Wien, Museum Moderner Kunst, 04.09.1988 - 11.10.1988
Von Angesicht zu Angesicht. Füssli, Böcklin, Rondinone und andere, Luzern, 28.02.2015 - 22.11.2015
Itten – Klee. Kosmos Farbe, Berlin, Martin-Gropius-Bau, 25.04.2013 - 29.07.2013
Expressionismus: Die wilden Fauves kommen!, Lens, Fondation Pierre Arnaud, 15.12.2017 - 20.05.2018
Im Laboratorium der Moderne - Adolf Hölzel und sein Kreis, Freiburg, Br., Museum für Neue Kunst, 25.11.2017 - 18.03.2018
Literatur
Christoph Wagner, Monika Schäfer, Matthias Frehner, Gereon Sievernich, Itten - Klee. Kosmos Farbe, Schnell und Steiner 2013
Wagner, Christoph/Schäfer, Monika/Frehner, Matthias/Sievernich, Gereon (Hrsg.), Itten - Klee. Kosmos Farbe, Bern: Kunstmuseum Bern, 2012
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Schweizer Meister / Swiss Masters. Publikation zum 75-Jahr-Jubiläum der Bernhard Eglin-Stiftung / Publication for the 75-year Jubilee of the Bernhard Eglin Foundation, hrsg. von Peter Fischer und Christoph Lichtin, Luzern: Kunstmuseum Luzern; Bern: Benteli, 2008
Saarbrücken, Saarland Museum Saarbrücken (Ausst.-Kat.), Johannes Itten. Alles in Einem – Alles im Sein, hrsg. von Ernest W. Uthemann, mit Texten von Christoph Wagner, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2003
Bern, Kunstmuseum Bern (Ausst.-Kat.), Johannes Itten. Das Frühwerk 1907–1919, hrsg. von Josef Helfenstein und Henriette Mentha, Bern: Kunstmuseum Bern, 1992
Amsterdam, Stedelijk Museum (Ausst.-Kat.), Johannes Itten. Het Velum, hrsg. von Jurrie Poot, mit Texten von Jurrie Poot, Amsterdam: Stedelijk Museum; Zürich: Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, 1991
Badura-Triska, Eva (Hrsg.), Johannes Itten. Tagebücher. Stuttgart 1913–1916. Wien 1916–1919, hrsg. von Eva Badura-Triska, mit einem Kommentar von Eva Badura-Triska, Wien: Löcker Verlag, 1990
Landolt, Hanspeter, Sammeln für die Schweizer Museen. Gottfried Keller-Stiftung. Collectionner pour les musées suisses. Fondation Gottfried Keller. Collezionare per i musei svizzeri. Fondazione Gottfried Keller. 1890–1990, mit Texten von Hugo Wagner (et al.), Bern: Benteli, 1990
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Wien, Museum Moderner Kunst/Zürich, Kunsthaus Zürich (Ausst.-Kat.), Johannes Itten. Meine Symbole, meine Mythologien werden die Formen und Farben sein, hrsg. von Dieter Bogner und Eva Badura-Triska, Wien: Löcker Verlag, 1988
Grüter, Tina, "Johannes Itten (1888–1967). Barmherziger Samariter", in: Jahresbericht der Gottfried Keller-Stiftung, 1981–1984, Bern: Verlag der Eidgenössischen Kommission der Gottfried Keller-Stiftung, 1985, S. 140-148
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Ergänzungsband zum Sammlungskatalog der Gemälde, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1984
"Die drei Phasen im Lebenswerk von Johannes Itten. Ausstellung im Kunstmuseum Bern", in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 230, 03.10.1984, S. 40
Bern, Kunstmuseum Bern/Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum/Stuttgart, Galerie der Stadt Stuttgart (Ausst.-Kat.), Johannes Itten. Künstler und Lehrer, mit Beiträgen von Josef Helfenstein (et al.), Bern: Kunstmuseum Bern, 1984
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983
Rotzler, Willy (Hrsg.), Johannes Itten. Werke und Schriften, hrsg. von Willy Rotzler, mit einem Werkverzeichnis von Anneliese Itten, Zürich: Orell Füssli Verlag, 1978
Thun, Kunstsammlung der Stadt Thun, Thunerhof (Ausst.-Kat.), Johannes Itten, Thun: Kunstsammlung der Stadt Thun, Thunerhof, 1962