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Werkbeschrieb
Christoph Rütimanns „Installation mit 3 Waagenobjekten“ von 1989 besteht insgesamt aus sechs mechanischen Küchenwaagen der Marke Lyssex, die bis zu zehn Kilogramm wägen können. Vier von ihnen verschweisst er zu jeweils zwei Paaren, wobei er das eine Waagenpaar an der Standfläche, das andere an der Wiegefläche verbindet. Die verbliebenen zwei Waagen montiert der Künstler an die obere und an die untere Seite eines Wandschränkchens, die obere Waage steht dabei auf dem Kopf, die untere hängt gleichsam an dem kleinen Wandschrank. Diese Anordnung der Waagen bringt mit sich, dass die obere, Kopf stehende Waage bloss ihr Eigengewicht anzeigt und die untere, hängende Waage der Gravitationskraft ausgesetzt ist, was ihre Messskala jedoch überfordert und den Zeiger an den Anschlag springen lässt. Die „Installation mit 3 Waagenobjekten“ wurde anlässlich der Ausstellung „Prospect/Retrospect: Zeitgenössische Kunst aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern“ im Herbst 1994 gezeigt, wobei die beiden verschweissten Waagenpaare jeweils auf einem Sockel präsentiert und das Schränkchen mit den montierten Waagen an der Wand im Hintergrund angebracht wurde.
Indem Rütimann die Waagen in seiner Installation in ungewohnte Positionen bringt, sie mit ihrem Eigengewicht konfrontiert oder ihnen nicht zu bewältigende Lasten zumutet, vermag er die Relativität des Wiegens zu visualisieren. Fasziniert von der Relation zwischen dem Gewicht der Waage und der Kapazität ihrer Skala, attestiert Rütimann der Waage durch das Anzeigen ihres eigenen Gewichtes die Fähigkeit mit sich selbst in einen Dialog zu treten. Dazu bemerkt Rütimann: „Sie ist das einzige Messinstrument, das sich selbst reflektiert.“
Das Element der Waagen ist ein zentraler Bestandteil von Rütimanns Œuvre, in verschiedenen Schaffensphasen konzipiert er Waagenskulpturen und Waageninstallationen, er stellt die Waagen immer wieder auf den Kopf, verschweisst sie ineinander, stapelt sie zu Türmen oder gruppiert sie zu wahren Waagentopographien. Die meisten Geräte findet er im Brockenhaus oder bestellt sie in grossen Mengen direkt beim Hersteller, wobei sich Rütimann ausschliesslich mit mechanischen Waagen aus dem vordigitalen Zeitalter beschäftigt. Der Künstler interessiert sich nicht für die tradierte Symbolik der Waage, die auf Macht oder Gerechtigkeit verweist, sondern ist fasziniert von der Gravitation, von den Kräften, die auf uns wirken, Rütimann will die „Welt wiegen“ und demnach misst letztlich keine von Rütimanns Waagen das, wofür sie bestimmt wäre. Wenn er die kleine, für Leichtgewichte konzipierte Briefwaage auf den Kopf stellt, kommt diese an ihren Anschlag, baut er für sie jedoch eigens eine schiefe Ebene – so geschehen anlässlich seiner grossen Einzelausstellung 1991 im Kunstmuseum Luzern – und konzipiert den Neigungswinkel der Ebene derart, dass die Kopf stehende Waage exakt das Gewicht eines Briefes anzeigt, dann schafft er für sie einen „Selbstempfindungszustand“. „Ich habe einen Raum für eine Waage gebaut, in dem sie sich wohlfühlt“, meint Rütimann dazu.
Eine seiner ersten Waagenskulpturen ist die „Skulptur auf grossem Sockel“ von 1987, die aus elf gestapelten Küchenwaagen mit Schiebegewichten besteht. Die unteren sechs sind durch die Last bis zum Anschlag niedergedrückt und starr, sie bilden den Sockel für die oberen fünf wägenden Waagen. In den 1990er Jahren wächst Rütimanns Beschäftigung mit Waagen in grosse Dimensionen, nun stapelt er Personenwaagen zu monumentalen, raumfüllenden Pyramiden, die in ihrer Schlichtheit und in ihrer Strenge an die Minimal Art erinnern. Und dennoch sind diese Skulpturen alles andere als statisch: „lebende Skulpturen“ nennt Rütimann sie, da sie fortwährend wägen und jede Mehrlast anzeigen. Die Idee der ständigen Bewegung und der nur vermeintlichen Statik verwirft Rütimann bei seinen jüngsten Waagenarbeiten von 2005 und 2006. Personenwaagen, Küchenwaagen oder Federzugwaagen werden mit Gips übergossen. Konfrontiert mit einem traditionellen Ausdrucksmittel der Bildhauerei, sind diese Waagen zu bewegungslosen Gipsskulpturen erstarrt, ihre Zeiger stecken fest und ihre Waagschalen scheinen von der weissen Gipsmasse überzuquellen.
Christoph Rütimanns „Installationen mit 3 Waagenobjekten“ vermag die Absolutheit des Messens als Präzisionsangelegenheit spielerisch aufzubrechen, durch den Einbezug von äusseren Gegebenheiten irritiert Rütimann den Werkbetrachter und evoziert eine neue Perspektive auf die Waagen, das Wiegen und letztlich auch auf die Kraft der Gravitation als primäres Ordnungssystem unserer Welt.
Gioia Dal Molin
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, 1990: Dep. des Künstlers 1994: Geschenk
Eingangsjahr:1990
Ausstellungsgeschichte
PROSPECT/RETROSPECT. Zeitgenössische Kunst aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 15.10.1994 - 27.11.1994
Equilibre. Gleichgewicht, Äquivalenz und Harmonie in der Kunst des 20. Jahrhunderts., Aarau, Aargauer Kunsthaus, 26.09.1993 - 14.11.1993
Literatur
Christoph Rütimann. Der grosse Schlaf, St. Gallen, Kunstmuseum St. Gallen/warth, Kunstmuseum Thurgau/Bonn, Kunstmuseum Bonn Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg, St. Gallen: Kunstmuseum St Gallen 2007
Aarau, Aargauer Kunsthaus (Ausst.-Kat.), Equilibre. Gleichgewicht, Äquivalenz und Harmonie in der Kunst des 20. Jahrhunderts., hrsg. von Tobia Bezzola mit Texten von Hubertus Gasser, Beat Wismer et al., Baden: Verlag Lars Müller; Aarau, Kunstmuseum Aargau, 1993