Ugo Rondinone schafft in vielfältiger Weise fiktive Räume, in denen der Betrachter sehr direkt mit einer anderen Form von Realität konfrontiert wird und sich unweigerlich mit dieser auseinandersetzen muss. Das sich in der Sammlung des Kunstmuseums Luzern befindende Werk, das gleichermassen von Text und Bild bestimmt ist, gibt Einblick in die vielschichtige Kunst Rondinones.
Die 53-teilige Zeichnungsarbeit ist in der Art eines Comicsstrips konzipiert und diente als Vorlage für die multiplizierte Fassung als Ringheft (vgl. KML 92.114z). Die in Tagebuchform geschriebenen Textfragmente haben unter sich keinen direkten Zusammenhang. 1992 entstanden, leitet das Werk eine Serie vergleichbarer Arbeiten ein.
Mit sehr direkter, provokanter und zumal recht aggressiver Sprache zieht der Protagonist den Betrachter oder die Betrachterin, beziehungsweise den Leser oder die Leserin ohne Umwege in eine Welt der homoerotischen Subkultur hinein. Die einzelnen Szenen handeln von sadomasochistischen Sexualpraktiken, exzessivem Drogenkonsum und grosser Gewaltbereitschaft, Depressionen und einer generellen Ignoranz gegenüber der Gesellschaft, Treulosigkeit und Bindungsunfähigkeit, Erfolglosigkeit, Frustration und Enttäuschung – Themenbereiche, die den gesamten Kanon an gesellschaftlich geprägten Vorurteilen zu einer Randgruppe zu umfassen scheinen.
Zusätzlich zum Text wird die von Einsamkeit, Aggression und Hoffnungslosigkeit geprägte Grundstimmung optisch durch Schriftbild und Illustration verstärkt. Abstand, Grösse und Anordnung von Wörtern und Satzfragmenten komponieren den aggressiven Rhythmus der Sprache des Protagonisten und übertragen diesen unmittelbar auf die Stimmung des Lesers. Wenn die Illustrationen auch nicht in direktem Zusammenhang zum Text stehen, sind sie in ihrer Aussagekraft dennoch gleich zu verstehen: Der Wolf ohne Rudel als Symbol für den einzelgängerischen und sozial ausgegrenzten Menschen, umgekippte Mülltonnen die ihren Abfall wie das Wrack einer zerstörten Seele preisgeben, Penetrationsszenen – jeglicher Intimität beraubt, mechanisch und unpersönlich, Gesichter und Körper, die sich wie in einem Albtraum bei lebendigem Leibe zersetzen, Wahnvorstellungen von feindseligen Chirurgen und Monstern mit furchterregenden Fratzen.
Ugo Rondinone reizt das Alphabet der Provokation auf allen Ebenen aus. Die Bildsprache des Comics eignet sich als Medium in seiner dynamischen Zeichnung besonders gut dazu und enthält zugleich etwas Fiktives, das wiederum die Wirklichkeit in Frage stellt. Rondinones Porträt der Schwulenszene steigert sich derart ins Extreme, dass es sich in seiner Übertreibung zugleich selber entschärft. Mit schockierenden "Aufklärungsmethoden" bringt der Künstler den Betrachter seines Werkes dazu, sich selbst und seine Position in der Gesellschaft zu überdenken.
Fabienne Sutter