Was da nicht alles kreucht und fleucht im Werk von Meret Oppenheim! Eichhörnchen, Schild-kröten, Raupen, Schmetterlinge, Hornissen und Hummeln, Libellen und zahlreiches weiteres Getier. In den 1930-er Jahren findet Meret Oppenheim im Umfeld des Surrealismus in Paris internationale Beachtung. Im Werk der Schweizer Künstlerin sind vielfach Tiere dargestellt. Oft erscheinen sie als reine Assoziation durch Form oder Material. Die «Sechs Urtierchen und Meerschneckenhaus» aus Keramik gehören zum Spätwerk der Künstlerin. Zu dieser Zeit wehrt sich Meret Oppenheim gegen die Kritik, die ihre Kunst immer wieder als «surrealistisch» und «weiblich» etikettiert und dadurch einengt. Anders als in früheren Werken werden in dieser Skulpturengruppe keine unkonventionellen, gefundenen Materialien kombiniert. Die Künstlerin verwendet hier Terrakotta, gebrannte Tonerde. Es handelt sich um ein traditionelles Material aus der Töpferkunst, quasi ein Urmaterial.
Die Skulpturengruppe «Sechs Urtierchen und ein Meerschneckenhaus» war im Jahr 2022 in der Sammlungsausstellung «Durch Raum und Zeit» zu sehen. Die gepunkteten Wesen könnten frühzeitliche Meeresschnecken sein; das gelbliche Tierchen mit zu einem «Saxophon» gebogenen Rumpf erinnert an ein Seepferdchen. Eine Schnecke mit zwei Fühlern trägt eine rechteckige Form auf dem Rücken, die das Dach des Meerschneckenhaus imitiert. Kehrt die Bewohnerin etwa zurück in ihr Häuschen? Doch wie passt die Schnecke durch die kleine Öffnung? Oppenheims Tierchen scheinen eigenen Gesetzen zu folgen. Die Künstlerin lässt aus der Tonerde eine eigene «Ur»-Welt erwachen.
Meret Oppenheim interessiert sich für Psychoanalyse und Träume, die ihr oft als Inspiration dienen. In ihren Werken thematisiert sie immer wieder Verwandlung und Metamorphose. Denn Leben und Kunst sind beide immer im Begriff, sich zu wandeln, ihre Form zu finden. Dabei geht sie virtuos mit Symbolen und Eigenschaften von Materialien und Objekten um und kombiniert diese zu vielschichtigen Arbeiten. So taucht das Thema der Häuslichkeit, das in der Psychoanalyse mit dem Unterbewusstsein in Verbindung gebracht wird, hier wieder als evolutionärer Unterschlupf auf. Und beim vermeintlichen Seepferdchen, dürfte Meret Oppenheim wahrscheinlich die Fortpflanzung interessiert haben. Denn es ist das Männchen, das den Nachwuchs austrägt und so Oppenheims Credo «Der Geist ist androgyn!» perfekt verkörpert.
Beni Muhl