Constantin Meuniers Darstellung einer Glasmacherei zeigt eine Szene aus der Frühzeit der Industrialisierung. Meunier, der später vor allem als Bildhauer heroisierende Darstellungen von Arbeitern schuf, begann seine Karriere in den 1880er Jahren mit Gemälden von Szenen aus Bergbau und Schwerindustrie. Schon durch die Themenwahl lässt sich Meuniers Werk der Stilrich¬¬tung des Realismus zuordnen, der sich seit den epochemachenden Kompositionen Gustave Courbets (1819-1877) der Darstellung von Arbeit und unteren sozialen Schichten ver¬¬¬schrie¬ben hatte. Constantin Meuniers Darstellung des jungen Glasbläsers ist denn auch in jenem doppelten Sinne realistisch, wie es der Kunsthistoriker Klaus Herdings beschreibt. Meunier schildert wirklichkeitsgetreu die Realität: Örtlichkeit, Produktionsvorgänge und Werk¬¬zeuge sind detailgenau wiedergegeben. Das Bild ist aber auch wahrheitsgetreu in dem Sinne, dass die Malerei durch einen pastosen, sichtbaren Farbauftrag zeigt, wie sie ge¬macht ist. Und selbst das Motiv des sehr jung erscheinenden Glasbläsers fügt sich in diese Definiti¬on des Realismus – nämlich als bildnerische Kritik an sozialen Missständen in einer kapitali¬sti¬schen Gesellschaft, die noch die Kleinsten und Schwächsten im Rahmen der Kin¬der¬arbeit für ihre Gewinnmaximierung einspannt.
Doch die kunsthistorische Kenntnis der Bildtradition gibt der Deutung des Gemäldes noch eine andere Wendung. Auffällig ist, dass der Wannenofen nicht direkt gezeigt wird, sondern sein Glühen nur indirekt zwischen den Spalten der Holzwand im Mittelgrund hin-durchscheint – schon das ein Kunstgriff, der in die Tradition, genauer die Malerei des 17. Jahr¬hunderts verweist. In diesem Sinne ist auch der junge Glasmacher zu verstehen: Womöglich geht er nämlich wie zahlreiche seiner Vorläufer in der abendländischen Kunst auf eine Stelle in der Naturalis Historia des römischen Autors Plinius d. Ä. (23-79 n. Chr.) zurück, der um 77 n. Chr. diese Enzyklopädie der damals bekannten Welt schuf. An einer Stelle berichtet Plinius darin über ein griechisches Gemälde, das ihn ungeheuer fasziniert. Es zeigt einen Knaben, der in ein Kohlebecken bläst, wodurch die Kohle aufglüht und so erst das Licht gab, das den Knaben sichtbar werden lässt. Diese Passage über ein heute längst nicht mehr existierendes Gemälde könnte uns kalt lassen. Doch just diese Stelle hat offenbar seit dem ausgehenden Mittelalter immer wieder Künstler dazu inspiriert, mit dem nur durch Plinius’ Beschreibung überlieferten Werk in Konkurrenz zu treten: Von Hans Holbein dem Älteren (1465-1524), der dieses Motiv in seine Darstellung des Marientods im Basler Kunstmuseum einfügte, über Gemälde von El Greco (1541-1614) und Peter Paul Rubens (1577-1640), die den Knaben in ihren Gemälden wiedergaben, scheint eine direkte Linie zu Meuniers jungem Glasbläser zu führen.
Das Gemälde belegt damit anschaulich, dass selbst harter Realismus nie bloss die Wirklich-keit der Arbeit abbildet, sondern als Kunst immer auch von Kunst kommt.
Heinz Stahlhut