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Werkbeschrieb
Penones „Albero di undici metri“ aus dem Jahr 1976 gehört zu einer Serie von mehreren frei gelegten Bäumen, die von 1969 bis 1991 entstehen. „Die erforderlichen Instrumente, um die Rekonstruktion eines Waldes auszuführen“ sind laut dem Bildhauer „ein Holzschlegel von 500 Gramm Gewicht, ein grosses und ein kleines Hohleisen, ein grosses und kleines Stechzeug und Glasscherben.“ Das Vorgehen ist immer dasselbe: Mit handwerklicher Sorgfalt holt der Künstler entlang eines Jahresringes in einer Umkehrung des Wachstumsprozesses, den Baumkern samt den Astansätzen aus dem einem industriell gefertigten Holzbalken hervor. Das zur Hälfte frei geschälte Baumsegment bleibt auf der Unterseite im Brett gefangen, das gleichsam den Sockel der Skulptur bildet. Die weg geschnittene Negativform und die Arbeitsleistung des Künstlers bleibt so nachvollziehbar. Neben den Alberi verschiedener Länge im Stil des Luzerner Exemplars gibt es auch vertikal kopfüber aus einem hohen Sockel herauswachsende Bäume. Die Alberi werden einzeln oder zu einem „Stück Wald“ zusammengefasst, präsentiert.
Der Luzerner Baum ist, wie im Titel festgehalten, elf Meter lang. Zur Spitze hin verjüngt sich das helle Gerippe des Baumkernes stark bis der ehemals junge Trieb vollständig vom Brett umgeben wird. Die Rundung des Stammes wird an seiner dicksten Stelle durch die dunkelbraune Fläche des Balkens beschnitten. Auf dem schmalen Rand des Brettes hat Penone seine Signatur eingekerbt und mit dunkler Farbe akzentuiert.
Der Bildhauer schafft hier nicht autonom eine neue Form, sondern richtet seine künstlerische Tätigkeit nach der Natur, indem er ein von der Natur geschaffenes Objekt herausschält. Bezeichnenderweise sieht sich der Künstler in der Tradition Michelangelos, der konstatierte, dass seine Schöpfung sich schon in dem rohen Block befinde und er sie lediglich hervor hole. Von dieser Positionierung des Renaissance Künstlers leitet Penone seine eigene Grundidee der Skulpturenkunst ab.
Durch seine Konzentration auf ein Lebensjahr der Pflanze legt er eine ehemalige Oberfläche, einen früheren Zustand zu einem präzis dendrochronologisch bestimmbaren Zeitpunkt frei: Er macht ein Objekt in seiner Vergangenheit sichtbar. Gleichzeitig verweist der Jahresring durch die Holzschichten, die im belassenen Brett ersichtlich sind, auf das spätere Wachstum. In der Gegenüberstellung der zwei gegenläufigen Wachstumsprozesse – dem aufbauenden organischen und der künstlerischen Reduktion des Materials – macht Penone Zeit sichtbar. Er beschreibt sein Schaffen denn auch als „eine Art Filmsequenz, in der umgekehrten Richtung geschossen und stark beschleunigt“. Daneben ist die Auseinandersetzung mit Oberflächen und der durch sie begegrenzten Volumina wiederkehrendes Thema in Penones Werk. In seinen Haut-Bildern kleidet er zeichnerisch einen Raum ein und kehrt so die Abgrenzung von Aussen und Innen um. Analog dazu spielt er in seinen Baumarbeiten mit der abschliessenden Oberfläche, die ein lebendiges Objekt in seiner Ausdehnung definiert.
Penone wählt hierfür kein unbeschriebenes Stück Natur. Bäume sind von grosser, sowohl profaner als auch kultureller Bedeutung für den Menschen. Durch seine Arbeit verweist der Künstler über die Funktionalität des Holzes hinaus auf das Wesen der Dinge. Er macht den Ursprung des Holzes erkenntlich, transformiert das Gebrauchsmaterial zurück zum Lebewesen. Es ist nicht Penones Intention, den Baum wieder als ein Stück ursprünglicher Naturschönheit herzustellen, sondern vielmehr interessiert ihn der Prozess der Verwertung von Natur. So hält er denn auch fest: „Was mich dauernd berührt, ist das in meinen Augen fantastische Aussehen einer jeden Tür, eines jeden Tisches, eines jeden Fensters, eines jeden Bodens. Alle tragen sie das Bildes eines Baumes in sich.“
Schon in den frühesten Werken beschäftigt sich der „Arte Povera“-Künstler mit Bäumen, eine seiner ersten Arbeiten sind drei ineinander geflochtene Jungbäume im Wald. Der Albero di undici metri ist ein zentrales Frühwerk Penones, in dem er seine künstlerische Haltung bereits auf den Punkt bringt. Auch innerhalb der Arte Povera nimmt es die Rolle eines Schlüsselwerkes ein, das die Merkmale der „armen Kunst“ wie Verwendung natürlicher Materialien, Hinterfragung der Dinge und Zeitlosigkeit in sich vereint. Dank Jean-Christophe Ammann, dem damaligen Direktor des Kunstmuseums Luzern, befindet es sich in der Sammlung. Amman war einer der massgeblichen Förderer der italienischen Künstler, die ab 1970 unter dem Sammelbegriff Arte Povera zusammengefasst wurden. Das 1977 angekaufte Werk wurde im selben Jahr das erste Mal in der Einzelausstellung des Kunstmuseum Luzern „Giuseppe Penone. Bäume, Augen, Haare, Wände, Tongefässe“ der Öffentlichkeit gezeigt. Das Brett mit Stamm wurde flach auf den Boden gelegt. In den zahlreichen Ausstellungen in verschiedenen Museen wurden jedoch auch andere Präsentationsformen gewählt, beispielsweise wurde das untere Ende des Stammes am Boden fixiert und die Spitze des schräg in der Luft verlaufenden Baumes, an die Wand gelehnt.
Chonja Lee
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, 1977 Ankauf
Eingangsjahr:1977
Ausstellungsgeschichte
Landpartie. Skulpturen und Installationen aus den sechziger und siebziger Jahren, Willisau, Rathaus, 24.10.1998 - 08.11.1998
Giuseppe Penone, Bologna, Castello di Rivoli, 14.11.1991 - 09.02.1992
Giuseppe Penone, Amsterdam, Stedelijk Museum Amsterdam
Die Magie der Bäume, Riehen, Fondation Beyeler, 21.11.1998 - 05.04.1998
PROSPECT/RETROSPECT. Zeitgenössische Kunst aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 15.10.1994 - 27.11.1994
Giuseppe Penone, Bologna, Museo d'Arte Moderna di Bologna, 24.09.2008 - 08.12.2008
Terrain. Von Robert Zünd bis Tony Cragg – Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und zeitgenössische Skulptur aus der Sammlung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 02.03.2007 - 05.08.2007
L'Etat des Choses I, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 03.04.1987 - 17.05.1987
Modell für ein Museum. Werke aus der Sammlung, mit der integralen Schenkung Minnich, dazu ein "Bilderzimmer" von Anton Henning und Allan Porters "I Am a Museum", Luzern, Kunstmuseum Luzern, 21.10.2006 - 11.02.2007
Giuseppe Penone. Bäume, Augen, Haare, Wände, Tongefässe, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 22.05.1977 - 26.06.1977
Sammlungsbilanz. 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 25.06.1989 - 10.09.1989
Highlights der Sammlung
Neunzehnhundertsiebzig. Material, Orte, Denkprozesse, Luzern, 22.02.2013 - 27.11.2013
Literatur
Lichtin, Christoph, "Die Sammlung im Kunstmuseum Luzern", in: s/w visarte.bern, Nr. 3, 2007, unpaginiert
Vogel, Maria, "Landschaftsbilder und Skulpturen im Dialog", in: Willisauer Bote, Nr. 19, 9.3.2007, S. 7
Vogel, Maria, "Mit neuem Schwung präsentiert", in: Willisauer Bote, 27. Oktober 2006, S. 7
Paris, Centre Pompidou (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone, hrsg. v. Catherine Grenier, mit Texten von Catherine Grenier (et al.), Paris: Editions du Centre Pompidou, 2004
New York, The Drawing Center (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone. The Imprint of Drawing. L'impronta del disegno, mit Texten von Catherine de Zegher (et al.), New York: The Drawing Center, 2004
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Landpartie - Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern auf Reisen im Kanton, mit Texten von Jean-Christophe Ammann, Theo Kneubühler, Ulrich Loock und André Rogger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1998
Oehen, Berta, "Zeit des Aufbruchs. Das Kunstmuseum Luzern zeigt im Rathaus Willisau Skulpturen und Installationen aus den sechziger und siebziger Jahren", in: Willisauer Bote, Nr. 164, 27. Oktober 1998, S. 17
Rogger, André, "Giuseppe Penone: Albero di undici metri", in: Willisauer Bote, Nr. 161, 22. Oktober 1998, S. 3
Riehen/Basel, Fondation Beyeler (Ausst.-Kat.), Magie der Bäume, mit Texten von Markus Brüderlin (et al.), Riehen/Basel: Fondation Beyeler, 1998
Oberholzer, Niklaus, "Installationen aus den sechziger und siebziger Jahren", in: Neue Luzerner Zeitung, 24. Oktober 1998, S. 53
Bonn, Kunstmuseum Bonn/Toyoty City, Toyota Municipal Museum of Art (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone, mit Texten von Christoph Schreier (et al.), Bonn: Kunstmuseum Bonn, 1997
Mailand, Museo d'Arte Contemporanea (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone, mit Texten von Ida Gianelli (et al.), Mailand: Museo d'Arte Contemporanea, 1991
Penone, Bologna, Galleria d'arte moderna villa delle rose (Ausst.-Kat.) Bologna: Galleria d'arte moderna villa delle rose 1989, 80 S., Ill.
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Amsterdam, Stedelijk Museum Amsterdam (Art (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone, mit einem Text von Germano Celant, Amsterdam: Stedelijk Museum Amsterdam, 1980
Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone, mit Texten von Hans Albert Peters (et al.), Baden-Baden: Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1978
Folkwang Essen, Museum Folkwang Essen (Ausst.-Kat.), Giuseppe Penone, mit Texten von Felix Zdenek (et al.), Folkwang Essen: Museum Folkwang Essen, 1978
Oberholzer, Niklaus, "Giuseppe Penones Ertasten der Grenzbereiche", in: Vaterland, 25. Mai 1977, S. unbekannt