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Werkbeschrieb
Das Bild „Ikarus Lilienthal II“ ist auf den 20. Mai 1941 datiert. Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg – an diesem Tag greift die deutsche Luftwaffe Kreta an und erfährt zahlreiche Bruchlandungen und Abstürze von Fallschirmjägern.
Erni ist gerade 31 Jahre alt, vom Militär eingezogen wird er zum Motorfahrer verpflichtet, später zum Tarn- und Kunstmaler. Derzeit gilt er als einer der aufstrebenden und populärsten Künstler der Schweiz. Gerade vor zwei Jahren realisierte Hans Erni seinen bisher bedeutendsten Auftrag – das „Landibild“, welches eines der grössten Schweizer Wandgemälde darstellt. In Dübendorf konkretisiert sich Anfang der 1940er Jahre das Projekt, den Flughafen auf einen interkontinentalen Grossflughafen zu erweitern. Für den Warteraum wurde ein Wandbild geplant, welches durch Erni ausgeführt werden sollte. Anlässlich dieses Projekts begann er sich eingängig mit der Thematik des Fliegens zu beschäftigen. Das Wandbild wurde jedoch, wie auch der Ausbau des Flughafens, nicht realisiert.
In einer täuschenden Trompe l’œil-Komposition hält er hier den dramatischen Absturz des Fliegers fest, indem er den Bildgrund kunstvoll um eine zusätzliche Ebene erweitert. Der Betrachter erblickt zuerst den abstürzenden Ikarus und erfährt dann im zweiten Moment, dass es sich hierbei um ein gemaltes Wandbild handelt. Erst der Schatten werfende Holzstab, der an eine allmählich zerbröckelnde Mauer gelehnt ist, sowie die Konstruktionszeichnung im Vordergrund, lösen den illusionistischen Moment auf.
Das Bild „Ikarus Lilienthal II“ zeigt eine einzigartige Verbindung von Phantasie, Wissenschaftsgeschichte und Technik. Der Titel verweist gleichsam auf zwei Flugpioniere: Ikarus, den Held der griechischen Mythologie, und Otto Lilienthal, den Held der Fliegerkunst der Moderne. Er arbeite unentwegt an einer mechanischen Verbesserung der Konstruktion, dass ihn die Segel, höher und weiter in die Lüfte hinaustragen. Doch eines Tages im Jahr 1896 überschreitet Otto Lilienthal die bisher geltenden Grenzen und stürzt mit seinen selbstkonstruierten Flügeln in den Tod. Hier knüpft das historische Ereignis an die griechische Mythologie an: Daidalos, der einfallsreiche Baumeister des Labyrinths des Minos, konstruiert im Gefängnis für sich und seinen Sohn künstliche Flügel aus Federn. Es gelingt beiden mittels dieser Flügel aus dem Gefängnis zu entfliehen. Auf dem Weg nach Kreta wird sein Sohn Ikarus aus Übermut und Freude der Sonne entgegenfliegen. Die starke Hitze lässt den Wachs schmelzen, mit dem die Federn zusammengeklebt sind. Ikarus stürzt vor Kreta ins Meer und ertrinkt. Erni verbindet in diesem Bild die antike Figur und seine Vogelfederkonstruktion mit dem Flugapparat des Flugpioniers Otto Lilienthal, der aufgrund eines Steuerfehlers ein ebensolches Schicksal erfuhr.
Das Bild versteht sich in seiner Verbindung von Geschichte und Mythologie als ein Gleichnis. Thematisiert wird der seit Menschheitsgedenken beständige Wunsch, die himmlischen Weiten zu erobern. Es ist nicht Ernis erstes Bild, das anhand des abstürzenden Ikarus’ die Gefahren der Überwindung der natürlichen Grenzen vermittelt. Seit Beginn der 1940er Jahre beschäftigt sich Erni eingängig mit dem Fliegen und thematisiert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt des Menschen. Sein persönliches Interesse ging soweit, dass er 1946 sogar selbst das Flugbrevet erwarb.
„Ikarus Lilienthal II“ ist einerseits eine Hommage an die kreativen und wagemutigen Pioniere der Lüfte, andererseits mahnt dieses Bild vor dem Respektverlust gegenüber den Naturgewalten. Erni würdigt die hier Errungenschaften, die der Mensch durch seine Geisteskraft, seine Intelligenz entwickelte. Gleichsam mahnt der Künstler auch die Entgrenzung zur Natur und warnt vor einem falschen Einsatz der Technologien und des Fortschritts. Eine Mahnung, die sich zugleich auch gegen den kriegerischen Einsatz der deutschen Luftwaffe am 20. Mai 1941 in Kreta richtet.
Katja Lenz
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, 1944 Schenkung als Gegenleistung für lebenslange Mitgliedschaft Mitgliedschaft
Eingangsjahr:1944
Ausstellungsgeschichte
PROJEKT SAMMLUNG. Meisterwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 26.06.1994 - 11.09.1994
Hans Erni, Martigny, Fondation Pierre Gianadda, 28.11.1998 - 08.09.1999
Sport in der Kunst, Zürich, Helmhaus
Windisch/Brugg, Höhere Technische Lehranstalt
Hans Erni, Schaffhausen, Museum zu Allerheiligen, 10.09.1966 - 20.11.1966
Hans Erni – Zeitzeugnisse, Luzern, Museum Hans Erni, 09.02.2010 - 12.02.2011
Hans Erni, Locarno, Casa rusca, 05.04.2014 - 31.08.2014
Hans Erni, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 06.08.1944 - 24.09.1944
Hans Erni. Retrospektive zum 100. Geburtstag, Luzern, Kunstmuseum, 24.05.2009 - 04.10.2009
Von Angesicht zu Angesicht. Füssli, Böcklin, Rondinone und andere, Luzern, 28.02.2015 - 22.11.2015
Literatur
Rudy Chiappini, Hans Erni, 2014
Mack, Gerhard, "Hans Erni. Retrospektive zum 100. Geburtstag", in: NZZ am Sonntag, 23.8.2009, S. 50
Martigny, Fondation Pierre Gianadda (Ausst.-Kat.), Hans Erni. Rétrospective, Martigny:Fondation Pierre Gianadda, 1998
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983
Rüegg, Walter, Hans Erni. Das malerische Werk/Peintures/Paintings, hrsg. von Ernst Scheidegger, Frauenfeld: Edition Scheidegger im Verlag Huber, 1979
Luzern, Kunstmuseum (Ausst.-Kat.), Zeitgenossen sehen. Hans Erni, mit Texten von Ernst Boesiger, Walter Bringolf, jean Gabus (et al.), Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1972
Burckhardt, Carl J., Hans Erni, Zürich: Ernst Scheidegger, 1964
Reinle, Adolf, Das Luzerner Kunstmuseum. Ein Führer durch die Sammlung, hrsg. vom Stadtarchiv Luzern und einer vom Stadtrat bestellten Kommission, Luzern: Kommissionsverlag Eugen Haag, 1958
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst-Kat.), Hans Erni. Oeuvre-Ausstellung, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1944