Die Bekanntheit von Amedeo Modiglianis Gemälden und dessen bevorzugten Motiven Frauenakt und -bildnis scheint zunächst den Blick auf diesen Künstler als Zeichner zu erschweren. Neben der eindrücklichen Ikonenhaftigkeit der Ölbilder wirken seine skizzenhaften Handzeichnungen geradezu fragil. Das unsignierte Männerbildnis (KML 664y) datiert vermutlich wie sein Pendant (KML 661y) aus dem Jahre 1917. Gewiss sind der Krieg und die damit verbundene materielle Not mit Grund dafür, dass sich Modigliani zu dieser Zeit von der Bildhauerei ab- und der Malerei sowie dann vor allem der Zeichenkunst zuwendet. Modigliani, der zeitlebens unter Geldmangel leidet, verwendet seine Zeichnungen oft dazu, seine offenen Rechnungen zu begleichen.
Auf vorliegendem Blatt ist ein mit wenigen, präzisen Strichen gezeichneter Kopf eines jungen Mannes zu sehen. In für Modigliani typischer Weise sind die Augen des Porträtierten lediglich mandelförmige Ausschnitte. Nun ist aber gerade der Blick des dargestellten Individuums dasjenige, was den Betrachter von Bildnissen primär einzunehmen vermag. Dadurch des unmittelbaren Bezugspunkts zum Abgebildeten beraubt, ist man hier gezwungen, auf andere Aspekte der Figur zu fokussieren. Die wiederholte Verwendung dieses "Stilmittels" in Gemälden und Zeichnungen legen nahe, der Künstler verfolge damit eine regelrechte Strategie, die auf die Befragung der Wahrnehmungsgewohnheiten abzielt.
Der auffallendste Bereich der Zeichnung ist gewiss die dunkle, mit breiten Strichen schraffierte Haarscheitelpartie des porträtierten Kopfes. Zusammen mit der feinen, fast vertikal verlaufenden Linie, die den Halsmuskel andeutet, bilden sich so zwei rechtwinklig zueinander stehende Hauptachsen.
Die wiederholt formulierte These, Modiglianis Porträts ähnelten sich allesamt in dem Masse, dass man beinahe annehmen könnte, es handle sich stets um dieselbe abgebildete Person, lässt sich schon nur anhand der Gegenüberstellung der vier zur Sammlung des Kunstmuseums Luzern gehörenden Männerbildnisse widerlegen. Wenn mitunter behauptet wird, Modiglianis eigentümliche Zeichen- und Malweise gründe eher in einer "inneren Vision" (Jean Cocteau) als in der Beobachtung, so gilt dies nur mit Vorbehalt oder dient zumindest nicht als hinreichende Erklärung für den Stil der Zeichnungen und Gemälde. Gewiss lassen sich auf den verschiedenen Blättern für Modigliani Typisches wie den winzigen schmalen Mund, die Mandelaugen und die weiten Nasenflügel ausmachen, jedoch wird man darüber hinaus von sehr unterschiedlichen Bildnissen sprechen müssen. Die formale Strenge des hier beschriebenen Blattes mit dem Akzent auf Scheitel und Augenpartie steht den insgesamt weicher und feiner gezeichneten Gesicht in anderen Porträts (vgl. KML 661y, 662y und 663y) gegenüber und erinnert an Modiglianis Gemälde und an die klaren Formen seiner Skulpturen aus den Jahren 1911bis 1915.
Isabel Fluri