In seinem einleitenden Text zum Katalog zur Retrospektive Hans Emmeneggers 1928 im Kunstmuseum Luzern strich Paul Hilber Emmeneggers Beschäftigung mit der Vue plongeante als neuartig im Schaffen des Künstlers heraus: "Ähnlich verhält es sich mit den Proben des zweiten Gestaltungsproblems, dem der Künstler manche Stunde der stillen Beobachtung gewidmet hat. Es ist dies das Problem der Vertikalperspektive. Die Bildproben zeigen nächtlich beleuchtete Häusergruppen aus der Höhe gesehen, mit ausgesprochenen Verkürzungen nach unten bildhaft glaubwürdig gestaltet. Emmenegger streift hier Gestaltungsgrundsätze, die dem Expressionismus und seinen Formalvarianten sehr nahe kommen."
Doch anders als Hilbers Bemerkung vermuten lässt, setzte der Maler dieses Stilmittel nicht erst in dieser Schaffensphase ein. Vielmehr zieht es sich als ein wichtiges Phänomen durch das gesamte Werk. Von den frühen Darstellungen des Muzzanersees, die auf der Reise ins Tessin 1897/98 entstanden sind, über das Bild "Sonnige Weide", welches 1904 in Paris Anerkennung fand und zwei Jahre später von der Schweizerischen Eidgenossenschaft erworben wurde, oder die beiden Luzerner Architekturansichten "Haus, von oben gesehen" und "Blick auf den Sternenplatz" bis ins Spätwerk bedient sich Emmenegger dieses wirkungsvollen Gestaltungsmittels.
Dies überrascht jedoch nicht bei einem Künstler, der sich wie Hans Emmenegger seit Anfang der 1890er Jahre immer wieder zur Ausbildung und zu Ausstellungszwecken in Paris aufhielt, das damals eine Hochburg des
Japonismus war. Unter den zahlreichen Neuerungen, die japanische Farbholzschnitte für die Kompositionsweise der Künstlerinnen und Künstler des Impressionismus und Neoimpressionismus von Mary Cassatt, Edgar Degas und Edouard Manet bis hin zu Vincent van Gogh, Paul Gauguin und den Nabis mit sich brachten, war die extreme Niedersicht wohl eine der folgenreichsten. Denn sie half nicht nur die traditionelle Organisation des guckkastenartigen Bildraums zu überwinden, sondern befreite die Kunst bis zu einem gewissen Grad von der naturalistischen Wiedergabe und verschob den Aspekt der Darstellung auf Struktur und Konstruktion.
In diese Bildergruppe gehört auch der "Blick auf den Vierwaldstättersee", dessen genaue Entstehungszeit nicht bekannt ist. Der extreme Niederblick
verwandelt die Häuser, die Baumgruppen und ihre Schatten im Mittelgrund in einen rhythmischen Aufbau aus leuchtend farbigen und dunklen Flecken. Da Häuser und Bäume zudem den Bereich des diesseitigen Seeufers verstellen, klappt der Tiefenraum in die Fläche. Dadurch, dass Emmenegger die Grenzen des Bildraumes ausserhalb des sichtbaren Bildausschnitts verlegte, liess er diesen beliebig erweiterbar erscheinen. Der Bildraum wird so eigentümlich gleitend und nur noch durch die Verkleinerung der im Raum dargestellten Objekte rhythmisiert.
Für Emmenegger, der zu diesem Zeitpunkt die avantgardistischen Strömungen von Expressionismus und Abstraktion vehement ablehnte, bot die Adaption von Gestaltungsmitteln des Japonismus wie derjenigen der Vue plongeante die Möglichkeit, unter Beibehaltung der gegenständlichen Darstellung ein gewisses Mass an Autonomie der Malerei in seine Werke einzuführen.
Heinz Stahlhut