Für seine 1973 entstandene Arbeit "Mein Alphabet" formt Gehr hunderte von mit Wachs überzogenen Tonfigürchen, mit denen er den Boden einer kleinen Vitrine belegt. Die Anordnung ist frei – und damit auch die Bezüge zwischen den einzelnen Elementen. Bei jeder Ausstellung lässt ein neuer Kontext wiederum neue Bedeutungen entstehen. Die Objekte selbst haben keine erkennbare symbolische Bedeutung. In ihrer Kombination allerdings wecken sie Assoziationen, aus denen Geschichten entstehen können. Auf der Basis von undefinierten Gegenständen, schafft Gehr auf diese Weise eine eigene Sprache, eine eigene Form der Kommunikation, die sich zwischen Figuren und Betrachtenden etabliert.
Im Einzelnen sind die Tonfigürchen funktionslos auch wenn sie teilweise grosse Ähnlichkeiten mit kleinsten Alltagsgegenständen wie Schrauben, Nägeln, Bolzen und Klammern, Zangen und gebogenen Drahtstücken haben, oder auch Formverwandtschaft mit organischen Objekten wie Bohnenhülsen, Muscheln und Knochen aufweisen. Dadurch, dass diese nun in eine Vitrine zu liegen kommen, wird ihre scheinbare Nutzlosigkeit durch museale Wichtigkeit ersetzt. Die Vitrine selbst hat mit ihren kleinen Massen allerdings keine grosse Präsenz und trotzdem – oder gerade deswegen wecken die Gegenstände die Neugierde der Betrachter, wirken anziehend und veranlassen dazu, sich zu ihnen hinunterzubeugen und sie eingehend anzusehen. Kurzum: eine Art Hommage an alle nichtigen Gegenstände, wie sie in jedem Haushalt herumliegen können – Kleinigkeiten, die es aber dennoch verdienen, gesammelt und archiviert zu werden.
"Mein Alphabet" lässt sich mit der 1975 im Kunstmuseum realisierten Arbeit vergleichen, für die zwölf grosse Tische (130 x 300 x 150 cm) mit zahlreichen Figuren belegt wurden. Auch sie sind als einzelnes Zeichen nicht lesbar. Die Betrachterin und der Betrachter werden aber dazu animiert, durch das Kombinieren und das visuelle Aneinaderfügen einen Kontext herzustellen. In einer Höhe von 130 cm liegend, werden die Figuren dem Bereich der haptischen Wahrnehmung entzogen. Gewissermassen auf Augenhöhe bilden sie die Basis für eine sehr direkte visuelle Kommunikationsform zwischen Betrachter und Objekten. Bedingt durch die Höhe, verändert sich mit jedem noch so kleinen Standortwechsel die Sicht auf die Gegenstände erheblich. Die Positionierung im Raum, insbesondere aber auch die situative Bestimmung der eigentlichen Kommunikationspartner ist gewollt und wichtig. Auch in diesem Werk geht es Gehr um die räumliche Beziehung, die die einzelnen Gegenstände zueinander einnehmen und um ihre situationsbedingte Bedeutung, die sie dabei erhalten.
Fabienne Sutter