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Werkbeschrieb
Von einem erhöhten Standpunkt aus fällt der Blick in eine breite, schneebedeckte Strasse. Die Häuserzeile auf der linken Seite und das grosse mehrstöckige Haus mit brauner Fassade rechts leiten den Blick zum Horizont. Dort hebt sich eine Häusergruppe durch die rote Farbe der Fassaden vom sanften Blau des Schnees und des Himmels ab. Am unteren Bildrand befindet sich mitten auf der Strasse ein Einspänner. Daneben ist scheinbar ein Mann im Begriff, Schnee von der Strasse in den einachsigen Wagen zu schaufeln. Ansonsten ist die Strasse leer.
Die dezenten Farben des Schnees und des Himmels dominieren das Bild. Wie ein leuchtender Strich betont die orange Fassade in der linken Häuserzeile die Bildmitte. Auf kräftige Farben wird weitgehend verzichtet und wenn sie vorkommen, dann in der abgeschwächten Form: Statt reines Rot wird ein mit Gelb abgeschwächtes eingesetzt; anstelle eines satten Dunkelbrauns erhält die Fassade am rechten Bildrand eine helle Variante des Farbtons.
Das Bild ist auf der Vorder- und Rückseite signiert, aber nirgends datiert. Im Museum voor Schone Kunsten in Ostende befindet sich ein Ölgemälde von Ensor, das vom Bildausschnitt her mit dem Gemälde im Kunstmuseum Luzern übereinstimmt. Auf der in pastoserem Farbauftrag ausgeführten belgischen Variante fehlt die Kutsche. Das belgische Bild mit dem Titel „De Van Iseghemlaan onder de Sneeuw“ (Die van Iseghemlaan im Schnee) ist unten rechts mit „J. ENSOR/janvier 81“ gekennzeichnet (Bild in: Ensor in Oostendse Verzamelingen, Ostende 1985, S. 55). Ebenfalls in der Sammlung des Ostender Museums befindet sich eine undatierte Skizze mit dem Pferdegespann und dem Schnee schaufelnden Mann (Bild: ebd. S. 86).
Der Blickwinkel von oben auf die Szene legt nahe, dass im Bildausschnitt der Ausblick aus Ensors Atelier festgehalten ist. Sein Atelier hat der sein Leben lang mit Ostende verbundene Künstler unter dem Dach eingerichtet – in einem Haus, bei dem sich die Rue de Flandre und der Boulevard van Iseghem kreuzen. Wiederholt zeigen Ensors Bilder den Ausblick vom hochgelegenen Atelier. Dennoch werden im Allgemeinen nicht Strassenszenen oder Landschaften mit Ensor in Verbindung gebracht, sondern vor allem wilde Bilder mit fratzenhaften Masken. Bereits diese Werke aus der Hauptphase weisen die für Ensor typische Farbgebung von schmutzigem Weiss als Grundfarbe zusammen mit hellem Gelb und Rosa auf. Ensor geht es um die Tonwerte und das Licht. Klare Umrisse spielen keine Bedeutung, nur der Eindruck des Bildes zählt. Das bringt ihn in die Nähe des Impressionismus, für den er allerdings wenig übrig gehabt hat. Er hat sich stets dagegen gewehrt, mit den Impressionisten in eine Reihe gestellt zu werden.
Offen bleibt der Versuch, das undatierte Bild innerhalb Ensors Werk einzuordnen. Das mit dem Gemälde aus Ostende übereinstimmende Motiv verleitet, für die Entstehung des „Winterlichen Stadtbildes“ ebenfalls das Jahr 1881 anzusetzen. Damit wäre diese Strassenszene ein Werk aus der Frühphase. Jedoch allein schon aufgrund der Farbpalette ist dies auszuschliessen. Ensors frühe Bilder sind mit dunklen Farben gemalt. Weil Pastelltöne für die späten Werke stehen, muss das „Winterliche Stadtbild“ zum Spätwerk gehören. Für die Übereinstimmung des Bildmotivs gibt es dennoch eine Erklärung: Ensor hat in seiner Spätphase oftmals Motive von früheren Werken in veränderter Form wiederholt. Das Gemälde aus dem Kunstmuseum Luzern nimmt somit in der Spätphase das Bildmotiv des Werkes aus dem Stedelijk Museum wieder auf. Belegt wird diese Vermutung mit einer Untersuchung der Signatur. Im Laufe der Zeit hat Ensor die Art zu unterzeichnen immer wieder ein wenig verändert. Beim vorliegenden Bild hat er nur mit dem Nachnamen unterschrieben. Der Rücken des "E" ist gerade, während beim "R" der Aufstrich wegfällt, sodass der Buchstabe an eine Zwei erinnert. Diese Signierungsform findet sich vor allem bei Bildern, die um die Mitte der 1930er Jahre entstanden sind.
Das Luzerner Gemälde erinnert formal zwar an die Pleinairmalerei, ist aber in einem Atelier entstanden. Stammt das Bild wie angenommen aus den 1930er Jahren, zeigt es eine Ansicht der Strasse, die sich Ensor zu diesem Zeitpunkt so nicht mehr bot. 1917 ist er an die Rue de Flandre umgezogen. Deshalb muss er sich ganz auf das ältere Gemälde als Vorlage gestützt haben.
Sonja Gasser
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Depositum der Stadt Luzern
Eingangsjahr:1961
Provenienz/ Provenance
Albert Goffin, Brüssel
Stadt Luzern 1958
Depositum im Kunstmuseum Luzern, Februar 1961
Bibliografische Referenz/ Bibliographical References
• Tricot, Xavier: James Ensor. Catalogue raisonné of the Paintings, Antwerpen: Pandora, 1992, Bd. I u. II
• Janssens, Valery: De beheerders van ons geld. Negentien gouverneurs can de Nationale Bank van België, Tielt: Lannoo, 1997
Unmittelbare Quellen (Dokumente mit unmittelbarem Bezug zum Objekt)/ Primary Sources
• Unterlagen zum Schenkungsvorgang A. Goffin an Stadt Luzern 1956 bis 1962, Stadtarchiv Luzern
Weitere konsultierte Quellen/ Further sources
• Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, Berlin
• Cultural Plunder by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg: Database of Art Objects at the Jeu de Paume
• Database “Central Collecting Point München” Database “Kunstsammlung Hermann Göring”
• Getty Provenance Index, German Sales Catalogs
• Lootedart.com Lost Art
• Répertoire des Biens Spoliés
• Verzeichnis national wertvoller Kunstwerke (“Reichsliste von 1938”)
Zusammenfassung/ Conclusion
Das Gemälde, das nach Auskunft von Xavier Tricot eine wohl in der Mitte der 1930er-Jahren entstandene Wiederholung einer erstmals 1881 geschaffenen Ansicht des Boulevards Van Iseghem in Ostende darstellt, gelangte 1958 mit den anderen Werken seiner Kunstsammlung als Erbschaft des Albert Goffin (1877-1958) in den Besitz der Stadt Luzern. Diese überwies das Bild 1961 an das Kunstmuseum Luzern.
Goffin bekleidete vor und während der deutschen Besatzung Belgiens verschiedene Ämter an der belgischen Nationalbank und musste nach dem Ende der Besetzung unmittelbar demissionieren. Auf unsere Nachfrage bei der belgischen Nationalbank wurden wir auf die Publikation von Janssens als einzige Quelle verwiesen, die aber keinen Aufschluss über die mögliche Herkunft seiner Kunstsammlung verwiesen. Aus Janssens lässt sich einzig entnehmen, dass Goffin nicht eng mit den deutschen Besatzern kollaborierte, so dass nicht zu vermuten ist, dass er sich aus beschlagnahmten Beständen der Besatzungsregierung bedient haben könnte. Da sowohl er als auch seine Frau Marthe Pauline, geborene Goldschmid aus wohlhabender Familie stammten, ist vielmehr zu vermuten, dass das Ehepaar die Werke schon zuvor erworben hatte.
Da viele der Werke aus der Sammlung Goffin nach der Übernahme durch die Stadt bzw. das Kunstmuseum Luzern neu gerahmt wurden, konnte von den Objekten selbst keine Hin-weise auf ihre Herkunft gewonnen werden.
Kategorie B
Ausstellungsgeschichte
PROJEKT SAMMLUNG. Meisterwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 26.06.1994 - 11.09.1994
Erster Einblick: Von früh bis spät. Bilder des Alltag aus der Sammlung, 04.03.2017 - 26.09.2018
Von früh bis spät. Bilder des Alltags aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, 04.03.2017 - 26.11.2017
Literatur
Luzern, Stadt Luzern/Luzern, Kanton Luzern (Slg.-Kat.), Durchsicht. Aus dem Kunstbesitz von Kanton und Stadt Luzern, Luzern: Stadt Luzern, Kanton Luzern, 1983
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983