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Werkbeschrieb
Wir sehen das Porträt eines jungen Mannes mit schulterlangem gelocktem Haar und knallig-orangem Pullover, der sich in einem Zimmer, in dem im Hintergrund eine mit geometrischem Muster bedruckte Tapete und rechts ein geöffneter Schrank zu sehen ist, befindet. Der Mann ist im Dreiviertelprofil dargestellt, er blickt an Betrachter und Betrachterin vorbei aus dem Bild hinaus. Es ist Luciano Castelli, Franz Gertsch hat ihn 1971 gemalt.
„Luciano Castelli I“ gehört zu den ersten fotorealistischen Bildern des Künstlers nach Bildvorlage. Zuerst sind dies Vorlagen aus Zeitschriften, später jedoch eigene Fotografien, die Menschen aus Gertschs ganz persönlichem Umfeld zeigen. Dazu gehören neben seiner Familie auch Künstlerfreunde – Luciano Castelli ist einer von diesen. Der junge Luzerner Künstler, Enfant terrible der Schweizer Kunstszene, der mit erst zwanzig Jahren 1971 an der Ausstellung „Visualisierte Denkprozesse“ im Kunstmuseum Luzern und ein Jahr später an der documenta 5 in Kassel teilnimmt, ist anfangs der 1970er Jahre ein beliebtes Sujet von Gertsch. Er personifiziert die antibürgerliche, ausgeflippte Hippiekultur, zu der Gertsch sich als Beobachter gesellt und die er auf zahlreichen seiner riesigen, von Timonthy Leary im Katalog zu Gertschs Ausstellung im Kunstmuseum Luzern 1972 als unheimliche und Ehrfurcht einflössende „monster paintings“ bezeichnete Gemälde dokumentiert.
Beeindruckend und gleichzeitig provozierend ist insbesondere auch Castellis androgynes, antibürgerliches Auftreten. 1971 gehört Castelli zu der Gruppe hinter einer Baulatte vor dem Eingang des Kunstmuseums Luzern stehenden jungen Männer, die Gertsch in seinem Gemälde „Medici“ verewigt und mit dem ihm an der documenta 5 der internationale Durchbruch gelingt. Gertsch malt ihn andererseits zu zweit mit seinem Freund Franz, mit Gaby, mit Marina, oder allein, im Zimmer, am Tisch oder auf dem Sofa sitzend. Immer ist er jedoch eingebettet in einen Hintergrund und ein der Hippiekultur entsprechendes Geschehen. Am deutlichsten ist dies auf den Ganzfigurenporträts wie „Medici“ (Sammlung Ludwig, Aachen) oder „Gaby und Luciano“ (Privatsammlung Bern), die den rauchenden und lesenden Castelli und die ihn beobachtende Freundin zeigt, aber auch im Doppelporträt „Marina schminkt Luciano“ (Museum Ludwig, Köln), in dem die Tätigkeit schon im Titel angedeutet ist, zu sehen.
„Luciano Castelli I“ ist beruhigter, jedoch fehlt auch hier ein anekdotisches Moment nicht. Einerseits geben Castellis nach vorne gebeugte Schultern den Eindruck von Bewegung, andererseits situiert die Einrichtung des Zimmers den Dargestellten deutlich in eine aktuelle, zeitgebundene Umgebung der 1970er Jahre. Das „knisternde Leben“ einzufangen, und dies in Überlebensgrösse, ist bis 1980 ein wichtiger Aspekt der Malerei von Gertsch, von dem auch das Porträt „Luciano Castelli I“ beredtes Zeugnis ablegt.
Sylvia Rüttimann
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Ankauf aus Privatbesitz, Luzern
Eingangsjahr:1978
Ausstellungsgeschichte
Franz Gertsch – Die Retrospektive, Aachen, Ludwig Forum für Internationale Kunst, 08.04.2006 - 25.06.2006
Sammlungsbilanz. 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 25.06.1989 - 10.09.1989
Franz Gertsch – die Retrospektive, Burgdorf, Museum Franz Gertsch, 13.11.2005 - 12.03.2006
Franz Gertsch. Werke 1969–2006, Tübingen, Kunsthalle Tübingen, 14.07.2006 - 01.10.2006
Neuer Realismus in der Schweiz, St. Gallen, Kunstverein St. Gallen im historischen Museum
Jubiläumsausstellung: 50 Jahre Kunstmuseum Luzern im Kunsthaus / 50 Jahre Bernhard Eglin-Stiftung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 01.01.1983 - 31.12.1983
Franz Gertsch, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 30.01.1972 - 05.03.1972
Franz Gertsch, Zürich, Galerie Verna
Schweizer Museen sammeln aktuelle Schweizer Kunst, Zürich, Kunsthaus Zürich, 15.02.1980 - 07.04.1980
della pittura
Franz Gertsch – die Retrospektive, Wien, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, 20.10.2006 - 11.02.2007
L'Etat des Choses I, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 03.04.1987 - 17.05.1987
Les Musées Suisses collectionnent l'art actuel en Suisse, Lausanne, Musée Cantonal des Beaux-Arts, 25.04.1980 - 15.06.1980
Aus der Sammlung: Männer und Frauen
Highlights der Sammlung
Neunzehnhundertsiebzig. Material, Orte, Denkprozesse, Luzern, 22.02.2013 - 27.11.2013
Literatur
Bühlmann, Karl, "175 Jahre Kunstgesellschaft Luzern.", in: Luzerner Neuste Nachrichten, Beilage, 23. Juni 1994, S. 1-7
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Ronte, Dieter, Franz Gertsch, mit einem Essay von Jean-Christophe Ammann, Bern: Benteli, 1986
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983
Zürich, Kunsthaus Zürich (Ausst.-Kat.), Franz Gertsch, hrsg. von Erika Billeter, mit Texten von Jean-Christophe Ammann (et al.), Zürich: Kunsthaus Zürich, 1980
Zürich, Kunsthaus Zürich (Ausst.-Kat.), Schweizer Museen sammeln aktuelle Schweizer Kunst, mit Texten von Felix Andreas Baumann (et al.), Zürich: Kunsthaus Zürich, 1980
Bochum, Kunstmuseum Bochum (Ausst.-Kat.), Tatort Bern, hrsg. von Urs Dickerhof und Bernhard Giger, mit Texten von Hans Christoph von Tavel (et al.), Bern: Zytglogge, 1976
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Franz Gertsch, mit Texten von Jean-Christophe Ammann (et al.), Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1972
Schönenberger, Gualtiero/Kneubühler, Theo, Giovane arte svizzera, Milano: Comune culturali di Milano, 1972