Das vorliegende, 1911 gemalte Ölbild von Oscar Lüthy stammt aus einer frühen Phase des Künstlers, die auf dessen erste autodidaktische Malversuche folgt.
1911 besucht der Berner Maler zum ersten Mal Paris und setzt sich dort mit Paul Cézanne sowie mit Pablo Picasso und Georges Braque eingehend auseinander. Insbesondere ab 1913 greift er die Formensprache des analytischen Kubismus auf, um in seinem ersten Hauptwerk die mittelalterliche Pietà von Avignon mit zeitgenössischen Stilmitteln umzuarbeiten und in ein Netz von kristallartigen Teilflächen zu zerlegen.
In diesem früheren Werk werden bereits erste, aus der Begegnung mit dem Kubismus hervorgegangene Impulse formal verarbeitet. Noch sind die einzelnen, klar konturierten Farbfelder grossflächig und nicht durch ein alles durchdringendes Licht entmaterialisiert. Zwei fenster- und türenlose Häuser sind entlang einer in die Tiefe führenden, flachen Diagonale aufgereiht. Ihre äussere Erscheinung ist auf die einfachen Grundformen von Kubus und Pyramide reduzierbar, worin sie an das Vorbild Cézannes gemahnen. Innerhalb des nach hinten durch eine Baumgruppe begrenzten, perspektivisch gestalteten Raumes wirken sie sehr plastisch und erinnern an die ursprüngliche Ausbildung des Künstlers zum Architekten. Der gesamte Aufbau des Bildes mit den hellen, der Sonne zugewandten Flächen und den dunkleren, schattigen Farbfeldern sowie den lanzettförmig gestalteten Bäumen ohne Äste und Blätter wirkt sehr tektonisch, gleichsam durch das Auge des Konstrukteurs betrachtet.
Noch stehen die stoffliche Erscheinung der Gegenstände im Raum und deren sinnliche Umsetzung auf der Leinwand im Blickpunkt des Malers. Die abgebildeten Häuser und Bäume, die Lüthy im selben Jahr mehrmals in anderen Gemälden wieder aufgreift, sind noch nicht von einer sinnbildlichen Bedeutung durchdrungen. Sie erscheinen lediglich als ein mit modernen Stilmitteln umgesetzter, einfacher Vorwurf. Eine Begegnung mit dem Werk Giottos 1914 veranlasst den der christlichen Mystik zugetane Künstler, vermehrt die materielle Welt mit Licht zu durchdringen, mit dem Ziel eine höhere Idee dahinter sichtbar zu machen. Dennoch bleibt das Schwanken zwischen den beiden Polen Natur und Geist ein entscheidendes Charakteristikum für Lüthys Werk, wie er 1944 in der Einleitung zum Ausstellungskatalog des Kunsthaus Zürich selber festhält: "Natur und inneres geistiges Bild […] diese Polarität, das ist mein Kampf um die Form Kunst."
Regine Fluor-Bürgi