Meret Oppenheim
Der Traum von der weissen Marmorschildkröte mit den Hufeisen an den Füssen
1975
Gouache, Collage auf Papier
49.9 x 36.4 x 3.8 cm
signiert und datiert, unten rechts, mit schwarzem feinem Filzstift: "M.O/VIII 75", bezeichnet unten Mitte, mit schwarzem feinem Filzstift: "Le rève de la tortue de marbre"
Kunstmuseum Luzern, Depositum der Stiftung BEST Art Collection Luzern, vormals Bernhard Eglin-Stiftung
Inv.-Nr. M 85.2y
2008, ProLitteris, Zurich
informationen
Werkbeschrieb
Am 15. August 1960 erträumt Meret Oppenheim, so besagt es ein Traumprotokoll der Künstlerin, eine „behelmte weisse Marmorschildkröte mit Hufeisen: Eine wunderschöne Skulptur (...) aufrecht, von unten gesehen auf dem Kamin“ (Aufzeichnungen 1928-1983. Träume, Bern und Berlin 1986, S. 49). Das vorliegende stark hochformatige Blatt, eigentlich eine Collagearbeit aus verschiedenen Materialien, zeigt die am unteren Rand des Papiers bezeichnete Schildkröte in eigenartiger Perspektive: Zu erkennen ist ein dreidimensionales Objekt – der weisse geäderte Bauch des Tiers sowie dessen vier merkwürdigerweise mit Hufeisen versehene Füsse – über einem mit Aquarellfarben gestalteten brennenden Cheminée. Im Bereich, wo der Kopf der Schildkröte vermutet werden könnte, breitet sich über die ganze obere Hälfte des Blattes ein wiederum aquarelliertes, weisses wolkenartiges Gebilde aus. Vor diesem ist ein Knäuel aus Kunststofffäden angebracht, der dem Bildelement eine räumliche Dimension verleiht.
Wie schon in „Teufelinnen“ (KML 85.7y) kombiniert Oppenheim in dieser Arbeit Alltäglich-Bekanntes – beispielsweise das Hufeisen als Glücksbringer – mit Geheimnisvoll-Undurchdringlichem. Die marmorierte Kaminumrahmung trennt einerseits den unteren Bildbereich, das Feuer, von den anderen Bildelementen, gleichzeitig korrespondiert aber die gemalte Marmorierung mit der Beschaffenheit des Schildkrötenbauchs. Das Nebulöse des „Helms“ der Schildkröte bildet einen Kontrast zur Härte oder Festigkeit, die üblicherweise mit Marmor oder einem Schildkrötenpanzer in Zusammenhang gebracht werden. Die Plastizität des Tiers wie die eigentlich quasi immaterielle (Rauch-)Wolke bildet andererseits einen Gegensatz zur bloss flächig aufgetragenen Aquarellfarbe des Kamins. Der Traumbereich, also die eigenartigerweise als Trophäe über dem Cheminee platzierte Schildkröte, wirkt daher realer als der Kamin, Teil eines „echten“ Interieurs und als solches Versatzstück des bürgerlichen Lebens.
Irritierend uneindeutig ist überdies der französische Titel der Arbeit: „Le rève de la tortue de marbre". Es könnte sich sowohl um die Schildkröte als Trauminhalt wie auch um die sich eine eigene Welt erträumende Marmorschildkröte handeln. Insofern könnte das Phantasiewesen Marmorschildkröte sogar stellvertretend für die Künstlerin stehen. Die Schildkröte gilt als Sinnbild für Beständigkeit und Langlebigkeit; ihr Panzer schützt sie vor Attacken und ist eigentliche Behausung und Rückzugsort. Die „steinerne“ Oberfläche ihres Bauches in vorliegender Arbeit akzentuiert diese Konnotationen. Gleichzeitig verweist die skulpturale Form – das Marmorne – auf die Künstlichkeit des Tiers.
Seit etwa dem 16. Lebensjahr schon protokolliert Meret Oppenheim, angeregt durch die Auseinandersetzung mit den Theorien Carl Gustav Jungs im Elternhaus, ihre Träume. Diese inneren Bilder, von denen die schriflichen Aufzeichnungen zeugen, finden über diesen sprachlichen Umweg immer wieder Eingang in das bildnerische Schaffen. In „Der Traum von der weissen Marmorschildkröte mit den Hufeisen an den Füssen“ offenbart sich ein vermeintlich phantastisches Traumbild sehr anschaulich und geradezu konkret, desgleichen offenbart sich hier wie im Werk „Teufelinnen“ Oppenheims Faible für Materialimitationen; so geraten in dieser Komposition – wie auch in vielen anderen Arbeiten der Künstlerin – die Kategorien des Realen und des Imaginären durcheinander.
Isabel Fluri
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Depositum der Stiftung BEST Art Collection Luzern, vormals Bernhard Eglin-Stiftung, ermöglicht durch die Firma Bucherer, Luzern; Ankauf durch die Firma Bucherer, Luzern, zuhanden der Bernhard Eglin Stiftung,1985 angekauft ex Galerie ???
Eingangsjahr:1985
Ausstellungsgeschichte
Meret Oppenheim – Retrospektive, Bern, Kunstmuseum Bern, 01.06.2006 - 15.10.2006
Un moment agréable sur une planète, Paris, Centre Culturel Suisse, 08.06.1991 - 07.07.1991
Meret Oppenheim, Stockholm, Moderna Museet, 04.09.2004 - 31.10.2004
Gruppe 33, Basel, Galerie zem Specht
Meret Oppenheim, London, Institute of Contemporary Arts (ICA), 13.10.1989 - 03.12.1989
Schweizer Meister. Sammlungsausstellung zum 75–Jahr–Jubiläum der Bernhard Eglin–Stiftung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 31.05.2008 - 20.10.2008
Modell für ein Museum. Werke aus der Sammlung, mit der integralen Schenkung Minnich, dazu ein "Bilderzimmer" von Anton Henning und Allan Porters "I Am a Museum", Luzern, Kunstmuseum Luzern, 21.10.2006 - 11.02.2007
Postkarten 2012 Prolitteris
Postkarten 2012
Highlights der Sammlung
Träume
Neunzehnhundertsiebzig. Material, Orte, Denkprozesse, Luzern, 22.02.2013 - 27.11.2013
Surrealism and the dream, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, 08.10.2013 - 12.01.2014
prospekt BEST
Meret Oppenheim - Beyond the Fur Cup, Hellerup/ DK, Øregaard Museum, 06.10.2016 - 24.01.2017
Literatur
José Jimenez, Beitr. von Dawn Ades & George Sebag, Surrealism and the dream, Museo Thyssen-Bornemisza 2013/2014
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Schweizer Meister / Swiss Masters. Publikation zum 75-Jahr-Jubiläum der Bernhard Eglin-Stiftung / Publication for the 75-year Jubilee of the Bernhard Eglin Foundation, hrsg. von Peter Fischer und Christoph Lichtin, Luzern: Kunstmuseum Luzern; Bern: Benteli, 2008
Oberholzer, Niklaus, "Das Herz der Sammlung", in: Aargauer Zeitung, 13.6.2008, S. 39
Lichtin, Christoph, "Die Sammlung im Kunstmuseum Luzern", in: s/w visarte.bern, Nr. 3, 2007, unpaginiert
Bianchi, Paolo, "Das 'Medium Ausstellung' als experimentelle Probebühne", in: Kunstforum International, Bd. 186, Juni/Juli 2007, S. 44-55
Schindler, Feli, "Lauter glänzende Ideen für die Zukunft", in: Tages-Anzeiger, 5. Januar 2007, S. 39
Bern, Kunstmuseum Bern (Ausst.-Kat.), Meret Oppenheim. Retrospektive "mit ganz enorm wenig viel", hrsg. von Therese Bhattacharya-Stettler, Matthias Frehner, 2006
Basting, Barbara, "Blick auf eine tragische Heldin der Kunst", in: Tages-Anzeiger, 2.6.2006, S. 53
Stockholm, Moderna Museet (Ausst.-Kat.), Meret Oppenheim, mit Texten von Annika Öhrner, Isabel Schulz, Barbara Zürcher et al., Stockholm: Moderna Museet, 2004
Paris, Centre Culturel Suisse (Ausst.-Kat.), Meret Oppenheim. Un moment agréable sur une planète, mit einem Text von Bice Curiger, Paris: Centre Culturel Suisse, 1991
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Curiger, Bice (Hrsg.), Meret Oppenheim. Defiance in the face of freedom, mit Texten von Meret Oppenheim, Bice Curiger, Jean-Christophe Ammann, Christiane Meyer-Thoss et al., Cambridge und Zürich: Parkett Publishers, 1989
Curiger, Bice (Hrsg.), Meret Oppenheim. Spuren durchstandener Freiheit, mit Texten von Jean-Christophe Ammann, Helmut Heissenbüttel, Alain Jouffroy, Meret Oppenheim et al., Zürich: ABC Verlag, 1982