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Werkbeschrieb
Die Zeichnungen nach Werken anderer Künstler nehmen in Giacomettis Gesamtwerk einen bedeutenden Platz ein. Das Studieren und Kopieren von Kunstwerken war für den Künstler nicht nur eine Beschäftigung, der er während seiner Studienjahre nachging, sondern blieb zeit seines Lebens wichtiger Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit. Seine Vorlagen fand er in Kirchen, Museen und auch in Form von Reproduktionen in Kunstbüchern: „Fast jeden Abend, wenn ich ins Atelier kam, blätterte ich in irgendeinem Buch und begann zu kopieren, einfach so, wo sich das Buch gerade öffnete, und ohne ein richtiges Zeichenblatt hervorzunehmen. Ich kopierte auf alles Mögliche, auf eine Zeitung oder die Rückseite eines Briefumschlages.“ (Aus einem Gespräch mit Luigi Carluccio, um 1965)
Hatte er sich in seiner Arbeit ganz dem Erfassen und Ergründen von Wirklichkeit verschrieben, so verfolgte er auch beim Kopieren dasselbe Ziel. Zwar stand hier anstelle der Wirklichkeit das Werk eines anderen im Vordergrund, doch ging es Giacometti auch hier darum, seine Vorlage in ihrem Wesen zu begreifen. „(…) um ein Kunstwerk besser zu verstehen, muss man versuchen, es zu kopieren“ (Giacometti in einem Gespräch mit Albert Skira, um 1942), das heisst: sich über den Vorgang des eigenen Sehens Klarheit zu verschaffen, den Entstehungsprozess des Werkes nachvollziehen zu versuchen, das Kunstwerk sozusagen von innen her zu ergründen.
Die Zeichnung nach Giovanni Giacomettis Gemälde „Nell’Osteria“ (Kunstmuseum Luzern, Inv. Nr. 85x) wird kurz nach dessen Entstehung im Jahre 1915 entstanden sein. Der junge Alberto verbrachte in diesen Jahren viel Zeit im Atelier seines Vaters; die beiden standen sich nun gegenseitig Modell, und die Gemälde Giovanni Giacomettis boten Stoff genug, um sich mit der Malerei des Vaters auseinanderzusetzen.
Wie stark sich Alberto gerade in dieser Studie an den künstlerischen Grundsätzen des Vaters orientiert hat, wird deutlich, wenn man die Zeichnung mit Kopien anderer Werke vergleicht. Übersetzt der Künstler seine Vorlagen sonst in ein dichtes Gefüge von Linien und raumdefinierenden Achsen, so als wollte er seinen Gegenstand auf seine Körperlichkeit hin befragen und diese zeichnerisch ertasten, so scheint es ihm in diesem Fall um etwas anderes zu gehen: Mit einem feinen, zarten Strich werden Komposition, einzelne Umrisse der Figuren und wichtige Details des Gemäldes auf das Blatt übertragen. In einem weiteren Arbeitsschritt hat sich Alberto mit Hilfe eines weichen, dunkleren Bleistifts daran gemacht, die Farbwerte des Gemäldes in zeichnerische Graustufen zu übersetzen. Mit dichten Schraffierungen und teilweise flächendeckenden Ausmalungen hält sich der Künstler eng an seine Vorlage; er setzt sich zeichnerisch mit den Wirkungen des Lichts und den entsprechenden Farb- und Tonwerten auseinander – einer Aufgabe, der sich Giovanni Giacometti in seinen Gemälden zeit seines Lebens verschrieben hat.
Die Zeichnung stammt aus dem Nachlass von Bruno Giacometti. Sie wurde 1994 als Ergänzung zum bereits zur Sammlung des Kunstmuseums Luzern gehörenden Gemälde „Nell’Osteria“ von Giovanni Giacometti erworben.
Barbara von Flüe
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Ankauf 1994, ex Bruno Giacometti, Zürich; Bruno Giacometti
Eingangsjahr:1994