Der Blausee, das Waldseelein im Berner Oberland auf 887 m ü. M. gilt trotz seiner bescheidenen Grösse von 0,64 ha als einer der bekanntesten Bergseen der Schweiz. Dies liegt nicht bloss an seiner ausserordentlichen Schönheit, der klaren und durchsichtigen Wasserfarbe und der scheinbar idealen Einbettung in seine Umgebung, sondern auch an seiner sagenhaften Entstehung. Aus Eifersucht auf die wunderbare Gipfelwelt des Kandertals und den azurblauen Himmel beschlossen die Bergkobolde, sich dieses „göttliche Blau“ von der Quelle, nämlich dem Dach der Erde her, in ihre eigenen grauen und dunklen Berghöhlen zu holen. Dafür bauten sie Gipfel um Gipfel, immer höher und grösser, bis die unausweichliche Katastrophe eintrat: Die Felsmassen stürzten ein und begruben das wunderschöne Kandertal. Erst viele Jahre später getrauten sich die Kobolde nach dieser Schmach wieder aus dem Berg hinaus in das Tal, erspähten mitten im Wald einen tiefblauen See und stellten fest, dass sie ihr Ziel trotzdem erreicht hatten: „Hatte die Spitze des Berges doch ins Himmelblau hineingestossen und im Niederstürzen ein Stücklein Herrlichkeit mit sich in die Tiefe gerissen.“
Auch Hans Emmenegger war angetan von diesem Kleinod im Berner Oberland und malte Ausschnitte des kleinen Sees mit unterschiedlicher inhaltlicher Gewichtung in den Jahren 1899 und 1900 mindestens dreimal. In Blausee (ca. 1900) thematisierte der Maler das Phänomen der Wasserspiegelung und erinnerte sich dabei womöglich an die Sehnsucht der Geister und Kobolde aus der Sage. Denn trotz des Uferausschnitts im Hintergrund und den abgeschnittenen Stämmen des Waldes wird das Bild von den im Seewasser sich spiegelnden Nadelbäumen, dem Himmel und den Wolken beherrscht. Emmenegger evoziert dadurch das Gefühl des Enge-Seins, einer gewissen Beklemmung rund um dieses schmuckartige Seelein inmitten von Bergen, tarnenden Bäumen, Himmel und Wolken.
Schenkt man einer Briefpassage seines Malerfreundes Max Buri Glaube, hing Emmeneggers künstlerische Auseinandersetzung mit dem Blausee eng mit seinen Vorbereitungen für die Pariser Weltausstellung von 1900 zusammen. Buri schrieb ihm am 4. August 1899: „Ich glaube, dass du am blauen See ein feines Motiv für Paris hast. Nimm nur genug Blau und Bier mit, aber mach nicht zu viel blau.“ Die Passage ist nicht nur informativ, sondern enthält ein Wortspiel, das womöglich beiläufig und humorvoll auf Emmeneggers teilweise übermütige alkoholische Ausschweifungen anspielt. In der Tat existieren zwei weitere Bilder mit den Titeln Blausee (Stämme) und Blausee (Seekreide), die kurz vor der Weltausstellung entstanden sind. Wie die Untertitel bereits suggerieren, thematisierte Emmenegger darin nicht die Oberflächenreflexion, sondern die optischen Phänomene unterhalb der Wasseroberfläche. Einerseits die Sichtbarkeit der Baumstämme, andererseits jene der sogenannten Seekreide, einer feinen, kristallinen Kalkablagerung, die üblicherweise in warmen stehenden Gewässern wie dem Blausee vorkommt. Für die Darstellung natürlicher visueller Phänomene interessierte sich Emmenegger zeitlebens, und das Zusammenspiel des Sees mit seiner Umgebung bot ihm dazu die idealen Voraussetzungen.
Dominik Müller