Mag das Motiv aus heutiger Warte rätselhaft erscheinen – im 18. Jahrhundert bedarf es keiner erklärenden Bildlegende. Das Kunstpublikum erkennt sofort den Satyr, der sich hinter einer kleinen Anhöhe versteckt, um von dort aus seine begehrlichen Blicke auf Wassernymphen zu richten, die vor ihrer Grotte schlafen. Dieses erotische Motiv, das bis auf die antike Mythologie zurückreicht, findet sich in der Malerei und Druckgrafik der Neuzeit in zahlreichen Variationen. Ein frühes ikonografisches Vorbild für Gessner ist ein Kupferstich von Marcantonio Raimondi aus dem frühen 16. Jahrhundert (The Illustrated Bartsch, Bd. XIV, Nr. 240, S. 319).
Gessners Radierung erscheint 1770 innerhalb einer Serie. Sie ist das zweite Blatt der dritten Serie von Landschaftserfindungen, die Gessner zunächst stückweise publiziert. Christian Ludwig von Hagedorn, Direktor der Dresdener Galerie und Akademie, kommentiert die Blätter in der Leipziger Zeitschrift „Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste“ in zeitlicher Verschiebung: die ersten fünf Blätter 1770, zwei weitere 1771, und die drei letzten 1772. 1771 kündigt der Verlag Orell, Gessner, Füssli und Comp. in einer Anzeige die Edition der ganzen Serie unter dem Titel „X. historische und mythologische Stücke“ an.
Die Serie wird in mehreren Auflagen verlegt, die Gesamtauflage ist aber nicht bekannt. Was immerhin ausgeschlossen werden kann, ist eine Auflage in mehreren Tausend Exemplaren, weil so viele Abzüge von einer geätzten Platte nicht genommen werden können: 1769 sichert der Buchillustrator Johann Rudolf Schellenberg seinem Verleger in einem Brief lediglich 1'200 gute Abzüge je Platte zu. Nimmt man diese Auflagenhöhe als ungefähren Richtwert und berücksichtigt, dass sich Gessners Kupferplatten in druckfähigem Zustand erhalten haben, so ist anzunehmen, dass die Gesamtauflage der „Landschaften mit mythologischen Figuren“ vielleicht 1'000 bis 2'000 Exemplare erreichte.
Gessners Landschaftsserien finden die Wertschätzung des europäischen Kunstpublikums. Dem Titelblatt der ersten Serie von 1765 ist zu entnehmen, dass sie nicht nur in Zürich in der Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner und Comp. verkauft wird, sondern auch in Basel beim Kunstverleger Christian von Mechel und sogar in Paris, wo sie der Grafikhändler Denis-Charles Buldet in seinem Sortiment führt. Auch Deutschland ist ein wichtiger Markt. Die Standorte der deutschen Gessner-Rezensenten – Andreas Mertens in Augsburg und Christian Ludwig von Hagedorn in Dresden – lassen Rückschlüsse auf die Verbreitung der Landschaftsserien im nördlichen Nachbarland zu.
Was fasziniert das Kunstpublikum im späten 18. Jahrhundert an Gessners Landschaftsserien? Die Faszination gründet auf zweierlei: Einerseits wird die Variation der Motive, die aus heutiger Sicht als beliebige Zusammenstellung erscheinen mag, aus damaliger Warte als angenehme Abwechslung wahrgenommen; andererseits kommt das Blättern in einer Grafikserie einer Reise in andere Zeiten und Gegenden gleich. Beide Rezeptionsformen – die Freude an der „varietas“ und die Bilderbetrachtung als fiktive Reise – bedienen bereits Landschaftsserien der niederländischen Druckgrafik im 17. Jahrhundert. Hier liegen die frühen Vorbilder für Gessner.
Christian Féraud