Mit seiner konsequenten Auslegung der Gegenstandslosigkeit als reine Farbpräsenz hat Rupprecht Geiger die deutsche Nachkriegsmoderne massgeblich geprägt. Das für seine späteren Arbeiten typische, rauschhafte Farberlebnis, tritt zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit noch hinter darstellende Formen zurück, um sich über mehrere Entwicklungsstufen von der abstrahierten zur abstrakten und in der gegenstandslosen Malerei schliesslich vollständig zu entfalten. Seine Bilder aus dem Krieg zeigen zunächst verlassene, flächige Landschaften mit tiefen Horizonten wie sie die niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jh. einführte. Geiger nutzt diese Stilmittel, um das Vakuum zu erfassen, das der Krieg selbst in unbewohnten Landstrichen hinterlassen hat. Die überschauende Perspektive wird zur persönlichen Beobachtung und entrückt die Gegend von Zeit und Raum. Dazu trägt nicht nur die Leere als ein Hauptmotiv seiner frühen Bilder bei, sondern auch die sie erfüllende expressiv-unheimliche Farbstimmung. Mit Anklängen an die Pittura Metafisica und den Surrealismus löst sich Geigers Malerei nach dem Krieg schrittweise vom Gegenstand, zeigt Ende der 1940er Jahre aber noch Formkonstellationen, die Architektur und Natur verwandt sind.
Geigers Beteiligung in der Künstlergruppe ZEN 49 markiert die Wende zur seriellen Arbeit an formalen Gruppen, die sich nach Medien (Malerei, Grafik, später auch Rauminstallation) unterscheiden lassen. In geradezu konzeptueller Weise dekliniert Geiger ab Mitte der 1950er Jahre die Wirkung aufeinander abgestimmter Farb-Formkombinationen in immer neuen, teils geringfügigen Variationen. Assoziative Bildtitel gibt er zugunsten einer systematischen Nummerierung auf und um die Wahrnehmung nicht zu beeinträchtigen, signiert er zeitweise nur noch rückseitig.
Das Eitempera-Gemälde „E 193“ von 1953/56 lässt sich auf den ersten Blick als zufällige Begegnung zweier angeschnittener Drei- oder Vierecke mit königsblauen Hütchen vor dunklem Hintergrund beschreiben. In Vorder- und Hintergrund kann die Bildfläche aber gar nicht streng geschieden werden. Geigers Farb- und Formenregie spielt der optischen Wahrnehmung einen Streich. Ein Hell-Dunkel-Kontrast strukturiert die Bildfläche ebenso wie die konkav gezogenen Innenkanten der leicht auskragenden, weiss getünchten Leinwandfelder. Im Kontrast zur feinstofflichen Wirkung des stellenweise diffusen Farbauftrags heben sie sich scharf ab. Daraus ergibt sich eine Gliederung in dreiteilige horizontale und vertikale Zonen. Trotzdem verwendet Geiger kein strenges Kompositionsschema. Ein nach unten auslaufender, schmaler Streifen bricht vom rechten Bildrand her ins Formgefüge und erinnert dabei an den ausfransenden Lichtkegel einer schwach flackernden Leuchtstoffröhre. Die vexierbildartig ineinander greifenden oder sich gegenseitig abstossenden Formen dienen letztlich der Inszenierung der Farbe Blau. In Kreissegmenten mit deckendem Farbauftrag eingeführt, bringt die fein weiss gehöhte Rundung das Königsblau in unterschiedlicher Intensität zum Strahlen. Zwischen dem von der Leinwand absorbierten Weiss und den dicht bis ausgedünnten Schwarzpigmenten entfaltet das in Winkel und Verläufe eingestäubte Blau eine jeweils andere Tonalität von Kobaltblau bis Violett. Dabei lässt sich schwer eruieren, ob unterschiedliche Farbkonzentrationen, die feinen Überlagerungen von weissen, schwarzen und blauen Pigmenten oder tatsächlich andere Farbnuancen die jeweils unterschiedliche Wirkung hervorrufen. „E 193“ thematisiert aber auch das Moment des Übergangs. Zwischen Farbauftrag, Tonalität, und dem Zuschnitt der Flächen baut sich so eine Spannung auf, die sich dem Betrachter als flimmernder Lichtwellen-Raum öffnet.
Gabrielle Schaad