Im Jahr 1975 stellt Rolf Winnewisser eine Serie von 17 unbetitelten Arbeiten auf Papier her. Beim Betrachten der Arbeiten ist die Frage, was denn eigentlich dargestellt sei, allgegenwärtig. Bleistiftspuren zeichnen sich unter weissen Gouache-Linien ab, zusammen formen sie auf rauem Papier zeichenhafte Gebilde. Die weissen Spuren kontrastieren das leere sandfarbene Blatt nur geringfügig, nach dem ersten Blick ist ein zweiter nötig, um die Umrisse klar einzuordnen. Man meint, Landschaften, Figuren, Kriegszenerien zu sehen, doch entgleiten die inhaltlich scheinbar festgemachten Linien immer wieder und forcieren so neue Interpretationsansätze. Die lasierende Farbe sowie die nicht durchgezogenen Bleistiftspuren stärken die Mehrdeutigkeit. Die Linien fangen wie ein Lasso Bilder ein, um sie noch im Greif-Akt wieder entgleiten zu lassen.
Rolf Winnewissers künstlerische Grundfrage ist: was ist ein Bild? In Afrika (in Tillaberi, Niger) entstehen zwei Jahre früher die Vorstudien zu den 17 Arbeiten. In einfachen Heftchen skizziert Winnewisser auf kleinem Format seine Ideen und versucht auszuloten, was sein Verhältnis zum Bild „in Bewegung, in Erregung versetzt“. Er merkt, es sind die „itineraren Zeichnungen“, die „Skizzen einer inneren Reise“. Vom Punkt, der Linie und der Fläche ausgehend, versucht er ein System von Zeichenbeziehungen zu schaffen. Dabei entsteht ein Zeichnungsnetz, das je nach Engmaschigkeit und Verknüpfungszeit unterschiedlich stabil ist und dementsprechend aufkommende Bilder mehr oder weniger fixiert. Winnewissers Interesse gilt den instabilen Netzen, die ständig neue Geschichten zulassen. Er versteht das einzelne Blatt als offene Einheit, bei jeder Hängung kann und soll die Reihenfolge innerhalb der Werkgruppe variieren. Die so neu geschaffenen Bezüge bewirken wiederum eine Verschiebung des Kontextes.
Die Serie wurde erstmalig 1975 in der Ausstellung „Beryll Cristallo“, die Winnewisser gemeinsam mit Aldo Walker und Theo Kneubühler konzipierte, im Kunstmuseum Luzern gezeigt. Winnewisser lebt während der Vorbereitungszeit in Afrika, in einem Briefwechsel entwirft er zusammen mit Kneubühler und Walker die Ausstellungsideen. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf das Silikat-Mineral Beryll und bezeichnet gleichzeitig eine eigens für die Ausstellung entworfene Kunstfigur. Die Figur soll in Anlehnung an die Eigenschaften des Steines die Gedanken reflektieren, absorbieren und brechen, so die Künstler Winnewisser und Kneubühler im gemeinsam verfassten Katalog „Beryllroman“, der zusammen mit drei weiteren Publikationen die Ausstellung begleitete. Als personifizierter Meta-Diskurs tritt die Figur „Beryll Cristallo“ als „schreibender schreiber, zeichnender Schreiber, schreibender Zeichner und zeichnender Zeichner“, als „Geschöpf mit einer mehrfachen Identitätskapazität“ (Winnewisser) in der Ausstellung und in den Katalogen zur Ausstellung auf und erlaubt den Künstlern, sich selbst, ihre Kunstauffassung und ihr Werkverständnis zu thematisieren und zu klären. Die rezensierenden Zeitungen sind mehrheitlich irritiert und beklagen, dass die Werke und die „poetisch unverbindlichen Texte“ eher der „Begriffsverdunkelung als der Standpunkterklärung“ dienen (NZZ).
Es ist nicht einfach, sich auf den inneren Diskurs einzulassen. Die Bildentstehung in Hinblick auf Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkmechanismen untersuchend, schafft Winnewisser eine Bildsprache, deren Natur eher mit einem inneren Zustandsbild zu umschreiben ist. Durch die ständige Auflösung, Verformung, Umformung, und Verschiebung wird das Bewusstsein zu einer eigenen Wirklichkeit, erhält also eine Komplexheit, die unendlich viel Raum aufweist.
Denise Frey