Cécile Wick, aktuell Professorin für Fotografie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich, wuchs auf einem Hof im Kanton Thurgau auf. Nach Absolvie¬rung des Kunstgeschichts- und Literaturstudiums in Zürich verbrachte sie ein Jahr in Paris, wo sie Theater studierte. Im SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz schreibt Angelika Affentranger: «Prägend wirkte sich hier vor allem die Ausbildung in Mime corporel bei Etienne Decroux auf sie aus. Die gewonnenen Erfahrungen flossen in ihre frühen Performances ein. Zu einer wichtigen Wegmarke auf ihrem Werdegang wurde auch der dreijährige Aufenthalt in den USA (1986–89). Zunehmend distanzierte sie sich von den Ausdruckssparten Theater und Video und wandte sich der experimentellen Fotografie und Malerei zu.»
Das Werk von Cécile Wick ist geprägt von Unaufgeregtheit und Ruhe. Ob Blüten, Ber¬ge, Städte oder Gewässer, ihre Motive erscheinen in eigenartiger Abgeschiedenheit und mit einem Hauch von Nostalgie: Stimmungen, die die Fotografin mit Hilfe von verschie¬de¬nen Tech¬niken entstehen lässt, die sie bewusst einsetzt.
In den USA entwickelte sie eine Serie von Fotografien mit dem Titel Mein Nachbar. Im Hochfor¬mat, mit einer Webcam aufgenommmen, zeigen diese, auf Grund des gewählten Bildausschnittes, von ihrer Umgebung enkoppelte und isolierte Einfamilienhäuser der Stadt Berkeley. In Schwarz und Weiss gehalten und mit hohem Kontrast, erinnert diese Serie an Werke von Edward Ruscha oder Bernd und Hilla Becher, beziehungsweise an die Fotografien des New Topographic Movements der 1970er-Jahre. Die Isolation von Objekten oder Objekt-Gruppen behält Wick seitdem in ihrer Arbeit bei, so auch in der vorliegenden Arbeit Seestück II.
In der Mitte des Bildes mit Blick über den Vierwaldstättersee, wahrscheinlich in der Nähe von Vitznau aufgenommen, ist der Bürgenstock zu erkennen. Dieser ist von seiner Umgebung getrennt und ragt wie ein riesiger Fels, wie eine Insel oder ein einsam treibendes Boot aus dem See. Dieser Eindruck entsteht auch auf Grund der leichten Unschärfe, die Was¬ser, Berg und Himmel verschmelzen lässt. Die Unschärfe als Stilmittel ist auf Wicks frühes Werk zurückzuführen, bei dem sie mit der Lochbildkamera (came¬ra obscura) arbeitete; eine Technik, die Bilder ohne Tiefen- und Konturenschärfe generiert. Ein weiteres der Fotografie eigenes Stilmittel ist der Einsatz von Körnung, in der digitalen Fotografie «Bildrauschen» genannt. Dieses Rauschen ist in der Arbeit Seestück II insbesondere in den dunkeln Flächen des Waldes oder in dessen Spiegelungen im Wasser zu erkennen und führt zu farbigen Flecken, die man jedoch nur bei ganz naher Betrachtung zu sieht. Der Himmel hingegen ist teils überbelichtet und so blass, dass an gewissen Stellen aus¬ser der Struktur des weissen Blattes nichts zu erkennen ist. Unterstützt von einer insgesamt reduzierten Farbigkeit könnte man bei dieser Arbeit (und bei vielen weiteren Arbeiten von Wick) von einer Vorschau-Bild-Ästhetik sprechen.
Wick setzt diese vermeintlich fehlerhaften Techniken, die an Amateur-Fotografie oder frühe digitale Fotografie erinnern, bewusst als Stilmittel ein, um damit das Bild nach ihrem Wunsch zu komponieren und gestalten. Dadurch erhält es die eingangs erwähnte Stille und gleichzeitige Durchläsigkeit und dies gerade in der Zeit von Hochglanz-Magazinen, Ultra-High-Definition-Fernsehen und der Rezeption von zusehends kommerziellen Bilder, beson¬ders auch in der zeitgenössischen Kunst. Dies kann man von Wicks Fotografien keineswegs behaupten, da sie vielmehr wie ein Löschpapier, das Abgelichte aufsaugen und bewahren, an¬statt es zu spiegeln. So fühlen sich die Bilder entgegen dem aktuellen Trend extrem ehrlich und beruhigend an, wie ein morgendlicher Sonntagsspaziergang am See.
Claudio Vogt