Aldo Walker (1938-2000): ohne Titel (1982), Dispersion auf Nessel, 181 x 130 cm
Gegen Ende der 1970er-Jahre beschliesst Walker, seinen Beruf als Elektriker zugunsten eines freien Künstlertums aufzugeben. In der Folgezeit entstehen viele grossflächige Gemälde, deren Stil aufgrund der dominanten, lose zusammengefügten Linien «intermolekulare Linienmalerei» (Stefan Banz) genannt wird. Sie sind das Resultat von Walkers Suche nach Möglichkeiten einer vom zeitgenössischen Kunstkontext losgelösten ‹kritischen Kunst›. Theoretisch orientiert Walker sich am Konzept der indirekten Mitteilung, das auf den eigenständigen Erkenntnisprozess der Betrachterin und des Betrachters abzielt. Inhaltlich beschränkt er sich auf abstrahierte Menschen- oder Tierkörper, die teils obszön, teils deformiert, aber immer leicht verfremdet, in ihrer Anziehungskraft verstörend wirken. Formal arbeitet Walker mit monochromen, elementaren Linien, um mit minimalen Stilmitteln Kontrast und Kontur zu maximieren. Walker lotet kritische, aber keine extremen Punkte der Wahrnehmung eines komplexen Zeichens (dem menschlichen oder tierischen Körper) aus. Dies garantiert einen spontanen Zugang zum Bild, wobei das Spannungsverhältnis von bekannten Mustern und verfremdeten Formen den eigenständigen, kritischen Zugang fördert, den emotionalen aber kontrolliert. Kathartische Emotion wird eben nur bis zu dem Punkt erlaubt, an dem die kritische Distanz sich aufzulösen droht. Walkers typische Linienführung rührt von seiner Arbeitsweise her: Er fertigt Karton-Schablonen, mit denen er die Linien malt und die er nutzt, um mit Repetition und Variation einer Form zu spielen. Darin liegt die Dialektik der Walker‘schen Linie von klarem, einfachem Verlauf und verfremdeten, teils grotesken Figurenformen.
Auf diesem Bild sind verschiedene, weisse Formen und Linien auf schwarzem Hintergrund zusammengestellt, die intuitiv als abstrahierter, auf dem Kopf stehender Menschenkörper gelesen werden können. Doch dieser relativ leichte Zugang täuscht über verfremdete Details hinweg, die spätestens auf den zweiten Blick erkannt werden: Der Kopf befindet sich nicht auf, sondern im Oberkörper und die kongruenten, aber nicht exakt parallelen Beine hängen als abgeschlossene Formen, die analog angeordneten Brüste als offene Linien lose in der Luft. Arme und Hände sind leicht unterschiedlich geformt sowie versetzt komponiert und gewisse Körperteile fehlen (Nase, Hals, Unterkörper etc.). Auffällig ist auch die für die frühe Phase der «intermolekularen Linienmalerei» typische Neutralität der Linien und Formen: Die manuelle Herstellung ist kaum erkennbar, Gestik und Mimik der Figur verraten keinerlei Emotion. Dies wird durch den Verzicht auf einen Titel bestätigt. Die fast vollständige Inhaltslosigkeit lässt vermuten, dass das Bild ein Experimentierfeld der Form darstellt. Es geht der Frage nach: Wie inhaltslos – ohne Inhaltslosigkeit zu thematisieren – darf ein Bild sein, um noch bzw. schon Bild zu sein?
Jan Miotti