Urs Lüthi, 58 Entries
Urs Lüthi wird am 10. September 1947 in Kriens geboren. Bereits als zehnjähriger Junge beschäftigt er sich intensiv mit der Kunst. Er verschlingt die Biografien der grossen Maler und lernt ihre Lebensdaten auswendig. Er sucht den Luzerner Kunsthändler Sigfrid Rosengart auf, der ihm geduldig Gemälde und Grafiken von Picasso zeigt. Und gemeinsam mit einem Schulkollegen – alleine traute er sich nicht – besucht er regionale Maler wie Leopold Haefliger oder Hugo Bachmann in ihren Ateliers, um zu sehen, wie Künstler arbeiten. 1960 zieht die Familie nach Schwanden im Kanton Glarus. Lüthi besucht das Gymnasium in Glarus. In seiner Freizeit nimmt der Frühbegabte Unterricht bei der Glarner Künstlerin Lill Tschudi. Sein grosses künstlerisches Talent findet die Beachtung seines Musiklehrers Jakob Kobelt, der ihm eine Ausstellung in der Aula des Gymnasiums ermöglicht. Dieser folgt eine Ausstellung im Glarner Stadthaus, wo Lüthi abstrakte Aquarelle zeigt, die anlässlich eines Ferienaufenthaltes der Familie in Venedig entstanden sind. Die Farbfeldmalerei Mark Rothkos, die Urs Lüthi an einer Ausstellung in Basel kennenlernt, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. 1963 bricht Lüthi das Gymnasium ab, um die Kunstgewerbeschule Zürich zu besuchen. Es entstehen Gemälde in Anlehnung an den Abstrakten Expressionismus. Neben dem Studium und auch danach arbeitet Lüthi in Werbeagenturen und als Layouter, u.a. für die Zeitschrift Annabelle.
Als 18-jähriger zieht Lüthi mit seiner damaligen Freundin nach Mailand. Es folgt eine Phase der Malerei, die der Kunstkritiker Fritz Billetter als „abstrakten Pop“ bezeichnet (vgl. KML 2007.60x). Lüthi zeigt sie erstmals 1966 in der Galerie Beat Mäder in Bern. Diese Ausstellung ist für das weitere Schaffen des Künstlers in verschiedener Hinsicht äusserst bemerkenswert. Hier sind vom noch nicht 20-jährigen Künstler formale Kriterien gesetzt, die später zunehmend eine wichtige Rolle spielen werden: Die Ausstellung vereint unter dem Titel „Pinksize“ einen geschlossenen Werkzyklus; die Titel der Exponate besitzen jene imaginative Kraft der Sprache, die Lüthi als Gestaltungsmoment während seines ganzen Schaffens in Form von Untertiteln und Überschriften einsetzen wird; zudem eröffnet der Katalog ein Leitmotiv Lüthis, indem auf der Titelseite eine Fotografie des Künstlers abgedruckt ist. Lüthi gestaltet jedes Detail von der Vernissage bis zu installativen Details, er versteht die Ausstellung selbst als ein künstlerisches Medium.
Zum „Ich“ als Leitmotiv seines Schaffens stösst Lüthi nach einer intensiven formalen und inhaltlichen Recherche. Nach der ersten Phase der Malerei beschäftigt er sich insbesondere mit konzeptuellen Arbeiten und Installationen, die ganz den Attitüden der Zeit verpflichtet sind. In der Galerie Palette in Zürich zeigt er 1969 beispielsweise eine Installation aus einem sechsteiligen Neonröhren-Raster, dessen Felder mit Isolationsmaterial gefüllt sind, oder eine Lichterkette, deren Aufleuchten und Ablöschen durch ein Metronom gesteuert wird. Im gleichen Jahr ist er zur Ausstellung „Pläne und Projekte als Kunst“ in der Kunsthalle Bern eingeladen. Hier stellt er drei Konzepte vor, etwa „Urs Lüthis Alterungsprozess“, eine Untersuchung mit Fotografien, Berechnungen und schematischen Darstellungen, die David Weiss über Urs Lüthi verfasst hat. Hier rückt die Person Lüthi sukzessive in den Mittelpunkt. Er macht in dieser Zeit Objekte, deren Form sich von seiner Person ableiten lassen, zum Beispiel „Labiles Objekt“, ein in gleich lange Elemente zersägter Holzstab, der mit Scharnieren so zusammengeschraubt ist, dass er nur unter ganz bestimmten Bedingungen an eine Wand gelehnt stehen kann. Diese Minimal-Skulptur hat genau Lüthis Körpergrösse von 167 cm. In dieser Zeit setzen auch seine fotografischen Arbeiten ein, etwa jene, die ihn als Zuschauer oder Mitläufer auf öffentlichen Plätzen in Mailand zeigen.
Dieser Prozess des Ausmessens, Beschreibens, Dokumentierens und Prüfens der eigenen Person ist die Voraussetzung für Lüthis überraschende und heute berühmte Installation in der Ausstellung „Visualisierte Denkprozesse“ im Kunstmuseum Luzern 1970. Lüthi präsentiert an den Wänden und in einer Vitrine seine ganze damalige Garderobe und persönliche Habe, während in der Luft der Geruch seines Lieblingsparfums hängt, das von einem Luftbefeuchter verdampft wird.
Mit seinen fotografischen Rollenspielen erlangt der Künstler rasch grosse Erfolge. In der Gruppenausstellung „Transformer. Aspekte der Travestie“ im Kunstmuseum Luzern 1974 ist sein 20-teiliges „Numbergirl“ das Hauptwerk der Ausstellung. Seine Fotografien werden im Kontext der damaligen Zeit betreffend Geschlechterrolle und Sexualität gelesen. Der betörende Jüngling lenkt den Blick der Betrachter auf den Inhalt: Fantasie, Irritation und Imagination werden mit Wucht in Gang gesetzt. Lüthi nimmt Posen ein, die traditionellerweise der Darstellung der Frau vorbehalten sind. Er zeigt Gefühle, für die ein Mann sich schämen müsste („Lüthi weint auch für Sie“, KML 2006.55z). Doch Lüthi selbst interessiert sich gleichwertig für formale Kriterien. Für ihn sind diese Fotografien durchaus Bilder in der Tradition klassischer Hell-Dunkel-Malerei. Umso irritierender ist für das Publikum dann der Wechsel zur Malerei in den 1980er Jahren, doch für den Künstler selbst ist die Wahl des Mediums bloss eine formale Entscheidung. Die Inhalte sind sich über die Jahre relativ ähnlich geblieben: Es zeigt sich die immer wiederkehrende Sehnsucht nach der Synthese des Trivialen mit dem Erhabenen und Schönen, die Ambivalenz der Dinge zwischen den grossen Gefühlen und dem unvermeidlichen Scheitern.
Die fotografischen Selbstporträts der 1970er Jahre sind ein Höhepunkt seines Schaffens. Bilder des Künstlers, der uns für uns weint, oder der mit einer gestrickten Phalluskappe sich auf einer Freud’schen Couch zurechtlegt, gehören zu den Ikonen der Kunst der Selbstinszenierung, deren Bedeutung als Zeitgenosse und Vorläufer etwa von Künstlerinnen und Künstlern wie Vito Acconci oder Cindy Sherman nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Diese Bildfindungen greift der Künstler als seine „Trademarks“ wieder auf, so an der Biennale von Venedig 2001 oder als Teile von retrospektiven Zusammenstellungen seines Gesamtwerkes.
Erstes berühmtes Werk dieser Art ist „The Complete Life and Work, Seen Through the Pink Glasses of Desire” (Lenbachhaus München), eine Zusammenstellung von 180 Bildern aus Leben und Werk Urs Lüthis, alle in das bereits in der frühen Malerei zu Ehren gekommene Rosarot eingefärbt. Durch die formale Vereinheitlichung in Grösse und Farbe entsteht hier ein derart starker visueller Eindruck, dass der historische wie der emotionale Zusammenhang des Einzelbildes in den Hintergrund rücken und alles – „the complete life and work“ des Künstlers – gleichzeitig und gleichwertig zu sehen ist. Es handelt sich nicht um ein Fotoalbum, in welchem man blättert, sondern um die Ausbreitung eines normierten Bildinventars, ein noch vor der grossen Digitalisierung analog angelegter Bildspeicher, den der Künstler fortan ausbaut und der ihm als ein Vokabular der Motive für das weitere Schaffen dient. In „Thousand or More Images“ kulminiert Lüthis Beschäftigung mit dieser Auslegeordnung, indem er die mittlerweile digitalisierten Bilder bis zur Unkenntlichkeit übereinander schichtet. Die Werke dieses Zyklus zeigen, wie der Titel euphemistisch vorgibt, „alles was von der Klarheit geblieben ist“. Es ist ein gigantisches, „hypertrophes Archiv“ (Heiner Georgsdorf, 2008), das sich selbst vernichtet hat, das aber durch diesen Prozess ein neues Kunstwerk von grosser malerischer Qualität hervorgebracht hat.
Nach den hyperrealistischen Figuren zu Beginn des neuen Jahrhunderts (KML M 2009.68w) hat Lüthi mit seinen jüngsten Bronze- und Wachsfiguren zu einer ganz aussergewöhnlichen Verortung seines Werkes in der Kunstgeschichte des vorangegangen Jahrhunderts gegriffen. Plastiken wie „I’d Like to Be a Cubist Sculpture“ haben durchaus eine nostalgische Note. Mit diesen Setzungen fordert der Künstler subtil eine Auseinandersetzung um ästhetische Fragestellungen ein, die zurzeit kaum ein zentrales Anliegen der Kunstwelt sind. Diese Bronzefiguren sind mit einer schmunzelnden Wehmut, aber ohne jegliche Ironie den grossen Fragen der Kunst gewidmet. Mit seinen kleinen Denkmälern ruft Lüthi in Erinnerung, dass die „Problems of Form and Expression in Modern Art“, so der Titel einer Grafikserie aus den 1990er Jahren, auch im 21. Jahrhundert anzugehen sind.
Christoph Lichtin
Als 18-jähriger zieht Lüthi mit seiner damaligen Freundin nach Mailand. Es folgt eine Phase der Malerei, die der Kunstkritiker Fritz Billetter als „abstrakten Pop“ bezeichnet (vgl. KML 2007.60x). Lüthi zeigt sie erstmals 1966 in der Galerie Beat Mäder in Bern. Diese Ausstellung ist für das weitere Schaffen des Künstlers in verschiedener Hinsicht äusserst bemerkenswert. Hier sind vom noch nicht 20-jährigen Künstler formale Kriterien gesetzt, die später zunehmend eine wichtige Rolle spielen werden: Die Ausstellung vereint unter dem Titel „Pinksize“ einen geschlossenen Werkzyklus; die Titel der Exponate besitzen jene imaginative Kraft der Sprache, die Lüthi als Gestaltungsmoment während seines ganzen Schaffens in Form von Untertiteln und Überschriften einsetzen wird; zudem eröffnet der Katalog ein Leitmotiv Lüthis, indem auf der Titelseite eine Fotografie des Künstlers abgedruckt ist. Lüthi gestaltet jedes Detail von der Vernissage bis zu installativen Details, er versteht die Ausstellung selbst als ein künstlerisches Medium.
Zum „Ich“ als Leitmotiv seines Schaffens stösst Lüthi nach einer intensiven formalen und inhaltlichen Recherche. Nach der ersten Phase der Malerei beschäftigt er sich insbesondere mit konzeptuellen Arbeiten und Installationen, die ganz den Attitüden der Zeit verpflichtet sind. In der Galerie Palette in Zürich zeigt er 1969 beispielsweise eine Installation aus einem sechsteiligen Neonröhren-Raster, dessen Felder mit Isolationsmaterial gefüllt sind, oder eine Lichterkette, deren Aufleuchten und Ablöschen durch ein Metronom gesteuert wird. Im gleichen Jahr ist er zur Ausstellung „Pläne und Projekte als Kunst“ in der Kunsthalle Bern eingeladen. Hier stellt er drei Konzepte vor, etwa „Urs Lüthis Alterungsprozess“, eine Untersuchung mit Fotografien, Berechnungen und schematischen Darstellungen, die David Weiss über Urs Lüthi verfasst hat. Hier rückt die Person Lüthi sukzessive in den Mittelpunkt. Er macht in dieser Zeit Objekte, deren Form sich von seiner Person ableiten lassen, zum Beispiel „Labiles Objekt“, ein in gleich lange Elemente zersägter Holzstab, der mit Scharnieren so zusammengeschraubt ist, dass er nur unter ganz bestimmten Bedingungen an eine Wand gelehnt stehen kann. Diese Minimal-Skulptur hat genau Lüthis Körpergrösse von 167 cm. In dieser Zeit setzen auch seine fotografischen Arbeiten ein, etwa jene, die ihn als Zuschauer oder Mitläufer auf öffentlichen Plätzen in Mailand zeigen.
Dieser Prozess des Ausmessens, Beschreibens, Dokumentierens und Prüfens der eigenen Person ist die Voraussetzung für Lüthis überraschende und heute berühmte Installation in der Ausstellung „Visualisierte Denkprozesse“ im Kunstmuseum Luzern 1970. Lüthi präsentiert an den Wänden und in einer Vitrine seine ganze damalige Garderobe und persönliche Habe, während in der Luft der Geruch seines Lieblingsparfums hängt, das von einem Luftbefeuchter verdampft wird.
Mit seinen fotografischen Rollenspielen erlangt der Künstler rasch grosse Erfolge. In der Gruppenausstellung „Transformer. Aspekte der Travestie“ im Kunstmuseum Luzern 1974 ist sein 20-teiliges „Numbergirl“ das Hauptwerk der Ausstellung. Seine Fotografien werden im Kontext der damaligen Zeit betreffend Geschlechterrolle und Sexualität gelesen. Der betörende Jüngling lenkt den Blick der Betrachter auf den Inhalt: Fantasie, Irritation und Imagination werden mit Wucht in Gang gesetzt. Lüthi nimmt Posen ein, die traditionellerweise der Darstellung der Frau vorbehalten sind. Er zeigt Gefühle, für die ein Mann sich schämen müsste („Lüthi weint auch für Sie“, KML 2006.55z). Doch Lüthi selbst interessiert sich gleichwertig für formale Kriterien. Für ihn sind diese Fotografien durchaus Bilder in der Tradition klassischer Hell-Dunkel-Malerei. Umso irritierender ist für das Publikum dann der Wechsel zur Malerei in den 1980er Jahren, doch für den Künstler selbst ist die Wahl des Mediums bloss eine formale Entscheidung. Die Inhalte sind sich über die Jahre relativ ähnlich geblieben: Es zeigt sich die immer wiederkehrende Sehnsucht nach der Synthese des Trivialen mit dem Erhabenen und Schönen, die Ambivalenz der Dinge zwischen den grossen Gefühlen und dem unvermeidlichen Scheitern.
Die fotografischen Selbstporträts der 1970er Jahre sind ein Höhepunkt seines Schaffens. Bilder des Künstlers, der uns für uns weint, oder der mit einer gestrickten Phalluskappe sich auf einer Freud’schen Couch zurechtlegt, gehören zu den Ikonen der Kunst der Selbstinszenierung, deren Bedeutung als Zeitgenosse und Vorläufer etwa von Künstlerinnen und Künstlern wie Vito Acconci oder Cindy Sherman nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Diese Bildfindungen greift der Künstler als seine „Trademarks“ wieder auf, so an der Biennale von Venedig 2001 oder als Teile von retrospektiven Zusammenstellungen seines Gesamtwerkes.
Erstes berühmtes Werk dieser Art ist „The Complete Life and Work, Seen Through the Pink Glasses of Desire” (Lenbachhaus München), eine Zusammenstellung von 180 Bildern aus Leben und Werk Urs Lüthis, alle in das bereits in der frühen Malerei zu Ehren gekommene Rosarot eingefärbt. Durch die formale Vereinheitlichung in Grösse und Farbe entsteht hier ein derart starker visueller Eindruck, dass der historische wie der emotionale Zusammenhang des Einzelbildes in den Hintergrund rücken und alles – „the complete life and work“ des Künstlers – gleichzeitig und gleichwertig zu sehen ist. Es handelt sich nicht um ein Fotoalbum, in welchem man blättert, sondern um die Ausbreitung eines normierten Bildinventars, ein noch vor der grossen Digitalisierung analog angelegter Bildspeicher, den der Künstler fortan ausbaut und der ihm als ein Vokabular der Motive für das weitere Schaffen dient. In „Thousand or More Images“ kulminiert Lüthis Beschäftigung mit dieser Auslegeordnung, indem er die mittlerweile digitalisierten Bilder bis zur Unkenntlichkeit übereinander schichtet. Die Werke dieses Zyklus zeigen, wie der Titel euphemistisch vorgibt, „alles was von der Klarheit geblieben ist“. Es ist ein gigantisches, „hypertrophes Archiv“ (Heiner Georgsdorf, 2008), das sich selbst vernichtet hat, das aber durch diesen Prozess ein neues Kunstwerk von grosser malerischer Qualität hervorgebracht hat.
Nach den hyperrealistischen Figuren zu Beginn des neuen Jahrhunderts (KML M 2009.68w) hat Lüthi mit seinen jüngsten Bronze- und Wachsfiguren zu einer ganz aussergewöhnlichen Verortung seines Werkes in der Kunstgeschichte des vorangegangen Jahrhunderts gegriffen. Plastiken wie „I’d Like to Be a Cubist Sculpture“ haben durchaus eine nostalgische Note. Mit diesen Setzungen fordert der Künstler subtil eine Auseinandersetzung um ästhetische Fragestellungen ein, die zurzeit kaum ein zentrales Anliegen der Kunstwelt sind. Diese Bronzefiguren sind mit einer schmunzelnden Wehmut, aber ohne jegliche Ironie den grossen Fragen der Kunst gewidmet. Mit seinen kleinen Denkmälern ruft Lüthi in Erinnerung, dass die „Problems of Form and Expression in Modern Art“, so der Titel einer Grafikserie aus den 1990er Jahren, auch im 21. Jahrhundert anzugehen sind.
Christoph Lichtin