Die Gemälde von alten Leuten gehören zu den packendsten Werken Albert Ankers. Über die einfachen, derben Gesichter, die oft von Sorge und Arbeit gezeichnet sind, legt der Künstler einen Hauch von Vergeistigung und Entrückung. Wiederholt hat sich Anker dahingehend geäussert, dass nicht blosse Wiedergabe des Gesehenen das Ziel seiner Kunst sei. Es gehe ihm vielmehr darum, ein bestimmtes Ideal des Menschen in den Gestalten seiner Umgebung anschaulich zu machen, ohne deswegen jedoch die individuellen Charakteristiken des Dargestellten zu vernachlässigen. Die berührenden, seelenvolleren Züge sollen hervorgehoben werden, so dass die Wirklichkeit ohne Verfälschung eine gewisse Verklärung erfahre. Indem er jene ansprechenden Seiten des Menschen vor Augen führt, will er dieselben positiven Kräfte im Betrachter wecken, so sein didaktisches Ziel. Individualität und ein übergeordnetes Ideal gehen eine Verbindung ein, die sich als charakteristisch für Ankers Kunst erweist.
Anders als Ferdinand Hodlers Altmännerdarstellungen, die einen resignierten, depressiven Vereinsamten zeigen, gibt Anker die alten Bauern nicht verzweifelt, sondern demutsvoll und mit einer abgeklärten Gelassenheit wider. Wie die sozial Benachteiligten in einigen seiner Genrebilder, beispielsweise die Empfänger der Armensuppe, machen sie niemanden für ihr Schicksal verantwortlich. Obwohl erschöpft von der Arbeit, scheinen sie mit ihrem Los zufrieden und wirken lebensfroh und echt.
Das Aquarell zeigt einen alten Mann, der der Nachwelt als Jean-Jacques Küffer, auch “Luftschlosser“ genannt, überliefert ist. Der 1886 verstorbene Mechaniker war für Anker die pure Verkörperung des Grossvatertypus. Zahlreiche Ölbilder und Aquarelle geben den gebürtigen Inser wieder, am eindruckvollsten in "Die Andacht des Grossvaters" (1893), wo der greise Küffer mit halb geschlossenen Augen einem Jungen zuhört, der aus einem Buch vorliest.
Auf dem vorliegenden Brustbild wird Küffer vor einem neutralen, schwarzen Hintergrund in einem 7/8 Porträt wiedergegeben. Er trägt ein hellbraunes Jackett, darunter ein weisses Hemd mit einem schwarzen Gilet und einem Schlips. Über den Kopf hat er eine braune Mütze gestülpt. Beide Hände stützt er auf einen Stock auf, eine von Anker häufig aufgegriffene Pose, die es ihm erlaubt, die Hände ins Bild zu integrieren. Diese sind zwar zerarbeitet, aber nicht entstellt und tragen ebenso wie das Antlitz zur Charakterisierung bei. Das Gesicht wirkt leicht eingefallen, tiefe Falten ziehen sich über die Wange hinunter zum Kinn. Dunkelgraue Augen, eine prominente Nase und ein schmaler Mund bestimmen die Physiognomie des Mannes. Unter schweren Augenliedern geht der Blick nach links, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren. Mit den Gedanken scheint der Alte in der Vergangenheit zu verharren und ein Hauch von Verklärung liegt auf dem einfachen, herben Gesicht.
Farblich bewegt sich das Porträt ganz in jenen dunklen erdigen Tönen, die für Ankers Behandlung ländlicher Sujets typisch sind. Der Bauer ist in ein helles Licht getaucht, das ihn deutlich von dem dunklen Hintergrund absetzt. Ein Bildraum ist nicht definiert. Der Dargestellte fügt sich nur knapp in das als schmal empfundene Format ein und ist an der rechten Seite leicht beschnitten.
Das Aquarell passt in eine Reihe von Ölgemälden, die Albert Anker von Küffer gemalt hat und die ihn in derselben Kleidung ebenfalls als Brustbild vor dunklem Hintergrund zeigen. Auch diese sind undatiert. Leider erlaubt das Todesdatum des Luftschlossers als "Terminus ante quem" keine Rückschlüsse auf eine Datierung, da Anker im Verlauf seiner künstlerischen Tätigkeit bestimmte Motive in zum Teil unterschiedlicher Technik wieder aufgegriffen hat.
Regine Fluor-Bürgi