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Description
Michael Buthes über vier Meter lange Arbeit mit dem bezeichnenden Titel „Krokodil“ ist aus dem nahezu unbearbeiteten Holz eines Baumstammes, einem Ast sowie mehreren grob geschnittenen Holzlatten geschaffen und erinnert in ihrer Form tatsächlich an das echsenartige Raubtier. Die – um bei genannter Assoziation zu bleiben – auf dem Rücken des Tieres eingeschlagenen Nägel unterlaufen jedoch die ersten Wahrnehmungen und verweisen auf den kulturellen Kontext der künstlerischen Arbeit und deren ursprüngliche Einbettung im Environment „Le Dieux de Babylon“. Die raumfüllende, als fantastisches Gesamtkunstwerk angelegte Inszenierung präsentiert der Künstler 1973 im Kölnischen Kunstverein und im Frühjahr des folgenden Jahres im Kunstmuseum Luzern. Zusammen mit einigen anderen Objekten – so beispielweise ein durch blaues Glanzpapier zum Altar mutierten Nachtschränkchen – stellt das in Luzern unter einem mit Zimmerpflanzen dekorierten Hausgerüst präsentierte „Krokodil“ ein Relikt des nur auf Fotografien und in Erzählungen dokumentierten Environments dar.
Palmwedel, farbige Tücher, glitzernde Pailletten, goldglänzende Papierarbeiten und geheimnisvolle Objekte schaffen das Universum „Le Dieux de Babylon“, das der Künstler rückblickend 1977 als „Rekonstruktion eines Benin-Tempels“ bezeichnet. Fasziniert von seiner Reise nach Benin und Nigeria im Sommer 1973 schreibt Buthe schon vor der Eröffnung der Ausstellung in Köln an den Berner Galeristen Toni Gerber: „Das Götterschiff, die Dämonen, Engel, Tut Ench Amon + die Königin von Saba werden am Sommerbeginn sich hier das Rende[z]vous geben.“ Während das in Köln und Luzern konzipierte Environment – ähnlich den Inszenierungen „Hommage an die Sonne“ (1971/72) oder „Musée du Echnaton“ (1976) – als orientalisierendes, mitunter auch klischiertes Gesamtkunstwerk fungiert und mehr eine freie Paraphrase denn eine ethnografische Rekonstruktion einer realen afrikanischen Lebenswelt darstellt, schafft das nagelbeschlagene „Krokodil“ scheinbar einen tatsächlichen Bezug zu kultisch-religiösen Ritualen Westafrikas. So erinnert das Baumstammobjekt an die meist grossen, mit Nägeln bespickten Skulpturen, deren kultisch-rituelle Funktion in der Abwehr von Dämonen und Krankheiten besteht. Diese offensichtliche visuelle Anlehnung an das naturreligiöse Objekt der Nagelskulptur wird durch den von Buthe bewusst intendierten Aspekt des Geheimnisvollen, des Mystischen potenziert. So vermag das „Krokodil“ trotz der eindeutigen Transformation in einen europäischen Kunstkontext durch eine fast magische Wirkung zu bestechen.
Michael Buthe reist seit den frühen 1970er Jahren regelmässig nach Marokko, er erkundet den Maghreb und ist fasziniert von Westafrika. Seine Beschäftigung mit diesen Kulturen und deren kulturellen und religiösen Besonderheiten prägt sein Œuvre wesentlich. In Kombination mit der Bildwelt Buthes entsteht so ein fantastisch-fantasievoller Kosmos, in dem aus gefundenen Alltagsgegenständen magische, ja kultische Objekte werden. Aus Holz, aus Metall- oder Stoffresten, aus Federn, Hörnern, Schnüren, Pflanzen, Fahrrad-, Auto- oder Möbelteilen, aus Wachs, Rosenblättern und Goldstaub schafft Buthe opulente Bilder- und Objektcollagen; die disparaten Fundstücke des täglichen Lebens, die Alltagsgegenstände aus Marrakesch, Köln oder Tunis werden zu fast mystischen Objekten. Das „Krokodil“ als Requisit eines fantastischen Gesamtkunstwerks evoziert unbekannte Kulte: es sei – so der Künstler – von ihm gebändigt worden. Und doch bleibt die visuelle Irritation, die Unsicherheit, das Bewusstsein über die gezielte Inszenierung, über die gewollte Evozierung einer geheimnisvollen Wirkungskraft. In der offensichtlichen Inszenierung einer magisch-auratischen Aufladung sowohl seiner raumfüllenden Environments als auch der einzelnen Arbeiten klingt die immer wieder geäusserte Feststellung über die verlorene Aura der Kunstwerke an. Eine Feststellung, der Buthe in einer Reaktivierung der Aura – vielleicht auch augenzwinkernd – zu widersprechen scheint.
Gioia Dal Molin
Provenance
Kunstmuseum Luzern
Eingangsjahr: 1974
Exhibition History
Michael Buthe. Michel de la Sainte Beauté, Düsseldorf, Kunstmuseum, 14.05.1999 - 01.08.1999
Modell für ein Museum. Werke aus der Sammlung, mit der integralen Schenkung Minnich, dazu ein "Bilderzimmer" von Anton Henning und Allan Porters "I Am a Museum", Luzern, Kunstmuseum Luzern, 21.10.2006 - 11.02.2007
L'Etat des Choses I, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 03.04.1987 - 17.05.1987
Auszeit. Kunst und Nachhaltigkeit, Vaduz, Kunstmuseum Liechtenstein, 25.05.2007 - 02.09.2007
Michael Buthe (1944-1994) Retrospektive, Luzern, 31.10.2015 - 31.01.2016
Neunzehnhundertsiebzig. Material, Orte, Denkprozesse, Luzern, 22.02.2013 - 27.11.2013
Michael Buthe. Retrospektive, München, Haus der Kunst, 08.07.2016 - 20.11.2016
Michael Buthe. Le Dieux de Babylon, Luzern, Kunstmuseum, 27.01.1974 - 24.02.1974
Sehnsucht nach der Fremde
Karneval der Tiere Tierdarstellungen aus der Sammlung, Luzern, 24.02.2018 - 06.01.2019
Michael Buthe. Retrospektive, S.M.A.K. Gent, 05.03.2016 - 05.06.2016
Michael Buthe (1944-1994). Retrospektive, Luzern, 31.10.2015 - 31.01.2016
Bibliography
Kunstmuseum Luzern; S.M.A.K., Gent; Haus der Kunst, München ; Vorw. von Fanni Fetzer, Philippe Van Cauteren, Okwui Enwezor ; Texte von Martin Germann, Michael Buthe. Retrospektive, Hatje Cantz 2015
Franke, Marietta, Der absurde Blick. Künstlerische Entwicklungsfähigkeit, Spiritualität und Abstraktion bei Michael Buthe, Frankfurt a. M.: Peter Lang. Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2010
Lichtin, Christoph, "Die Sammlung im Kunstmuseum Luzern", in: s/w visarte.bern, Nr. 3, 2007, unpaginiert
Bianchi, Paolo, "Das 'Medium Ausstellung' als experimentelle Probebühne", in: Kunstforum International, Bd. 186, Juni/Juli 2007, S. 44-55
Vaduz, Kunstmuseum Liechtenstein (Ausst.-Kat.), Auszeit. Kunst und Nachhaltigkeit, hrsg. von Friedemann Malsch, mit Texten von Friedemann Malsch (et al.), Nürnberg: Verlag für moderne Kunst; Manchester: Cornerhouse Publications, 2007
Schindler, Feli, "Lauter glänzende Ideen für die Zukunft", in: Tages-Anzeiger, 5. Januar 2007, S. 39
Düsseldorf, Kunstmuseum (Ausst.-Kat.), Michael Buthe. Michel de la Sainte Beauté, hrsg. von Stephan von Wiese, mit Texten von Paolo Bianchi (et al.), Düsseldorf: Kunstmuseum, 1999
Palme, Thomas, "Michael Buthe", in: Texte zur Kunst, September 1999, Bd. 35, S. 254-256
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983