Ernst Schurtenberger, 27 Entrées
Ernst Schurtenberger, geboren am 20. April 1931 in Luzern, wird früh zum Aussenseiter. Als Sohn eines überzeugten Kommunisten und einer unter pathologischem Kaufzwang leidenden Mutter begegnen ihm die Nachbarn skeptisch. Nach einer Ausbildung zum Schreiner (1946–1951) übt er das Handwerk nur kurze Zeit aus. Die nötige Geduld und Präzision im Umgang mit dem Material fehlen ihm. Früh zeigt sich auch sein aussergewöhnliches zeichnerisches Talent. Um diese Fertigkeit weiter zu verfeinern, besucht er noch während der Lehre abendliche Zeichenkurse an der Kunstgewerbeschule Luzern. Ab 1952 entscheidet er sich ganz für die Kunst, hält sich vorerst jedoch als Werbetexter über Wasser. Mit dem Ziel möglichst bald die Künstlermetropole Paris zu besuchen, eignet er sich die erforderlichen Sprachkenntnisse an. Während eines ersten längeren Parisaufenthalts (1955–56) schreibt er sich an der Académie de la Grande Chaumière ein und studiert bei Yves Brayer (1907–1990). Kurz darauf beginnt er zwischen den Städten zu pendeln. In Luzern tritt er 1956 als Hospitant in die Zeichenklasse von Max von Moos (1903–1979) an der Kunstgewerbeschule ein. Hier lernt Schurtenberger seine spätere Ehefrau, die Grafikerin Therese Staffelbach, kennen. Als sie für die Arbeit nach Mailand zieht, kommt ein neues Reiseziel zu seinen bisherigen Wohnorten hinzu. Ab Mitte der 1950er Jahre wird Schurtenberger mehrfach mit Förderpreisen und Stipendien bedacht (eidgenössisches Kunststipendium 1957, 1959/60; Kiefer-Hablitzel Stipendium 1955/56, 1960, 1962). Anlässlich von Gruppenausstellungen in Mailand und Bochum (1972), ernten seine neuen, textbasierten Arbeiten aber wenig Anerkennung. Schliesslich wandert er nach Österreich aus, wo er bis zu seinem Tod am 19. Juni 2006 sesshaft bleibt. Öffentliche Sammlungen wie das Aargauer Kunsthaus erwerben seine Ölbilder und Zeichnungen. Im Kunsthaus Aarau richtet Beat Wismer 1987 Schurtenbergers erste institutionelle Einzelausstellung aus. Seine Arbeiten werden in den folgenden Jahren regelmässig in Luzerner Galerien gezeigt. Trotzdem bleibt er – nicht zuletzt wegen seinem unberechenbaren Temperament und irritierenden Auftreten – in der Kunstszene ein Aussenseiter, sein Werk ein Geheimtipp. Die Stadt Luzern würdigt Schurtenbergers authentische Arbeit 1990 mit dem Luzerner Kunstpreis. 2011 zeigt das Kunstmuseum Luzern eine Retrospektive.
In Ernst Schurtenbergers umfangreichem Schaffen lassen sich mehrere Phasen abgrenzen. Als Schreinerlehrling in den späten 1940er Jahren übt er sich darin, dreidimensionale Objekte in lineare Entwurfszeichnungen zu übersetzen. Ein Drang körperliche Formen in Kuben und musterartig angeordnete Farbbündel aufzulösen zeigt sich auch in frühen Aktdarstellungen. Nach einem Studienjahr an der Académie de la Grande Chaumière in Paris will er seine Malerei immer entschiedener als ungegenständlich verstanden wissen. Die Ölgemälde sind jetzt beissende bis balancierte Farb- und Formkombinationen. Wo ein Fleck, eine Linie oder ein Strich zu setzen sind, sagt ihm sein Gespür für die Malerei, das Spontaneität und Komposition vereint. Obwohl Schurtenbergers Arbeiten zunehmend von den tachistischen Tendenzen der Nouvelle Ecole de Paris geprägt scheinen, entziehen sie sich einem akademischen Zugriff – sei es von künstlerischer oder kunsthistorischer Seite. Für Schurtenberger ist klar, seine Bilder entspringen seiner Alltagswelt, den eigenen vier Wänden. Trotz ihres teils hohen Abstraktionsgrades oder völligen Ungegenständlichkeit, liegen ihnen die Gattungen der Ateliermalerei Stillleben, Porträt oder Akt zugrunde. Als Ateliers nutzt Schurtenberger zeitlebens mehrere Räume parallel: zunächst Waschküchen oder Dachkammern in der Luzerner Altstadt, später auch die modrigen Gemächer einer alt-herrschaftlichen Villa, schliesslich ein altes Gehöft. Die Zimmer dienen ihm gleichzeitig als Arbeitsorte und Wohnungen, platzen aber jeweils schon kurz nach ihrem Bezug aus allen Nähten. Hier sammelt Schurtenberger altes, gebrauchtes und schmutziges Geschirr ebenso an wie ausgesuchte Liebhaberobjekte, Phonographen, Kaffeemühlen und Kommoden. Zusammen mit grob zugeschnittenen, grundierten Leinwänden, Malutensilien und dürftig gezimmerten Spannrahmen überwuchern die Habseligkeiten seine stets in der Zimmermitte platzierte Bettstatt. Diese Wunderkammerobjekte werden zum Motivfundus seiner Zeichnungen.
Seit den 1960er Jahren dokumentieren von ihm „Kurvenzeichnungen“ genannte Stillleben eine paradoxe Suche nach der gültigen Form. Strichbündel und Korrekturstriemen eines Radiergummis zeugen vom Durchsetzungskampf der Kontur, während sie sich als dunkelschwarze Bleistiftlinie darüber hinwegsetzt. Anders als das intime Format der Zeichnung verliert die expressive Malerei in den prozess-, performance- und installationsorientierten 1970er Jahren zunächst an Relevanz. Eine jüngere Generation von Schweizer Künstlern – darunter Heiner Kielholz, Urs Lüthi und Dieter Roth – feiert nicht nur in der Zentralschweiz Erfolge, sondern geniesst auch international zunehmend Anerkennung. In pamphletartigen Wortspielen bezieht Schurtenberger gegen die Mechanismen des Kunstsystems Stellung.
Nach einer künstlerischen Durststrecke entdeckt er um 1972 den Reitsport als zweite Berufung. Er kauft sich ein Rennpferd und arbeitet zeitweise als Stallbursche. Die neu erwachte Leidenschaft fürs Pferd führt ihn in einen entlegenen Winkel Österreichs, wo eine konservative Haltung jegliche Modernisierung verzögert. Die überholten Strukturen und verstaubten Estriche in Allentsteig treffen Schurtenbergers nostalgischen Geschmack. Wie das Dorf, steht auch Schurtenbergers Malerei zunehmend ausserhalb von Raum und Zeit. Obwohl er im bäuerischen Umfeld aneckt, bündelt sich in der rohen Landschaft seine künstlerische Energie. Er gelangt zu noch eigenständigeren malerischen Setzungen. Über die Stationen Landschafts- und Pferdemalerei kehrt Schurtenberger Schritt um Schritt zurück zu figurativen Bildern expressiven Charakters. Sein skizzierender Duktus erfasst exakt die Gemütslage und Ausstrahlung der Dargestellten. Wiederum zeichnet er daneben unablässig. Obwohl eine fortschreitende Parkinson-Erkrankung seinen Strich zittrig gemacht hat, entfalten seine Linien auf blankem Papier starken Ausdruck.
Ab 1980 bis in die 1990er Jahre malt Schurtenberger in seinem ländlichen Refugium zahlreiche Ölbilder – oft unter freiem Himmel. Stets unbetitelt variiert diese Feiluftmalerei paradoxerweise das Motiv städtischer Halbwelt-Gestalten. Von lasziv sich räkelnden Prostituierten bis hin zu Stadtoriginalen, die Schurtenberger bei sporadischen Besuchen in Luzerner Lokalen und Kaffeehäusern trifft. Nach und nach gelingt es ihm in Luzern einen kleinen aber treuen Kreis von Mäzenen und Sammlern zu gewinnen. Dazu gehört der Bauunternehmer und Kunstförderer Gottfried Anliker ebenso wie der damalige Direktor des Kunstmuseums Luzern, Peter F. Althaus. Inzwischen herrscht ein für figurative Malerei äusserst empfängliches Klima. Die Ölmalerei der italienischen Transavanguardia und die Neue Heftige Malerei um Künstler wie Rainer Fetting oder Elvira Bach sind gefragt. Dennoch zieht sich Schurtenberger mehr und mehr in eine Gegenwelt zurück, malt immer weniger im Freien, seltener auf Leinwand. Schliesslich gibt er die Ölmalerei vollständig auf. Die Tempera-Zeichnung bleibt bis zum Schluss sein bevorzugtes Medium. Die bunten Zeichnungen der Nullerjahre spiegeln sein Innenleben, persönliche Erinnerungen und Phantasien. Darin zeigt sich ein humorvoller Umgang mit Geschlechterrollen sowie dem Topos des Künstlers. An Kinderzeichnungen erinnernd stellen sie sich gegen bürgerliche Kunst- und Normbegriffe, denen sich Schurtenberger selbst längst entzogen hat.
Gabrielle Schaad
In Ernst Schurtenbergers umfangreichem Schaffen lassen sich mehrere Phasen abgrenzen. Als Schreinerlehrling in den späten 1940er Jahren übt er sich darin, dreidimensionale Objekte in lineare Entwurfszeichnungen zu übersetzen. Ein Drang körperliche Formen in Kuben und musterartig angeordnete Farbbündel aufzulösen zeigt sich auch in frühen Aktdarstellungen. Nach einem Studienjahr an der Académie de la Grande Chaumière in Paris will er seine Malerei immer entschiedener als ungegenständlich verstanden wissen. Die Ölgemälde sind jetzt beissende bis balancierte Farb- und Formkombinationen. Wo ein Fleck, eine Linie oder ein Strich zu setzen sind, sagt ihm sein Gespür für die Malerei, das Spontaneität und Komposition vereint. Obwohl Schurtenbergers Arbeiten zunehmend von den tachistischen Tendenzen der Nouvelle Ecole de Paris geprägt scheinen, entziehen sie sich einem akademischen Zugriff – sei es von künstlerischer oder kunsthistorischer Seite. Für Schurtenberger ist klar, seine Bilder entspringen seiner Alltagswelt, den eigenen vier Wänden. Trotz ihres teils hohen Abstraktionsgrades oder völligen Ungegenständlichkeit, liegen ihnen die Gattungen der Ateliermalerei Stillleben, Porträt oder Akt zugrunde. Als Ateliers nutzt Schurtenberger zeitlebens mehrere Räume parallel: zunächst Waschküchen oder Dachkammern in der Luzerner Altstadt, später auch die modrigen Gemächer einer alt-herrschaftlichen Villa, schliesslich ein altes Gehöft. Die Zimmer dienen ihm gleichzeitig als Arbeitsorte und Wohnungen, platzen aber jeweils schon kurz nach ihrem Bezug aus allen Nähten. Hier sammelt Schurtenberger altes, gebrauchtes und schmutziges Geschirr ebenso an wie ausgesuchte Liebhaberobjekte, Phonographen, Kaffeemühlen und Kommoden. Zusammen mit grob zugeschnittenen, grundierten Leinwänden, Malutensilien und dürftig gezimmerten Spannrahmen überwuchern die Habseligkeiten seine stets in der Zimmermitte platzierte Bettstatt. Diese Wunderkammerobjekte werden zum Motivfundus seiner Zeichnungen.
Seit den 1960er Jahren dokumentieren von ihm „Kurvenzeichnungen“ genannte Stillleben eine paradoxe Suche nach der gültigen Form. Strichbündel und Korrekturstriemen eines Radiergummis zeugen vom Durchsetzungskampf der Kontur, während sie sich als dunkelschwarze Bleistiftlinie darüber hinwegsetzt. Anders als das intime Format der Zeichnung verliert die expressive Malerei in den prozess-, performance- und installationsorientierten 1970er Jahren zunächst an Relevanz. Eine jüngere Generation von Schweizer Künstlern – darunter Heiner Kielholz, Urs Lüthi und Dieter Roth – feiert nicht nur in der Zentralschweiz Erfolge, sondern geniesst auch international zunehmend Anerkennung. In pamphletartigen Wortspielen bezieht Schurtenberger gegen die Mechanismen des Kunstsystems Stellung.
Nach einer künstlerischen Durststrecke entdeckt er um 1972 den Reitsport als zweite Berufung. Er kauft sich ein Rennpferd und arbeitet zeitweise als Stallbursche. Die neu erwachte Leidenschaft fürs Pferd führt ihn in einen entlegenen Winkel Österreichs, wo eine konservative Haltung jegliche Modernisierung verzögert. Die überholten Strukturen und verstaubten Estriche in Allentsteig treffen Schurtenbergers nostalgischen Geschmack. Wie das Dorf, steht auch Schurtenbergers Malerei zunehmend ausserhalb von Raum und Zeit. Obwohl er im bäuerischen Umfeld aneckt, bündelt sich in der rohen Landschaft seine künstlerische Energie. Er gelangt zu noch eigenständigeren malerischen Setzungen. Über die Stationen Landschafts- und Pferdemalerei kehrt Schurtenberger Schritt um Schritt zurück zu figurativen Bildern expressiven Charakters. Sein skizzierender Duktus erfasst exakt die Gemütslage und Ausstrahlung der Dargestellten. Wiederum zeichnet er daneben unablässig. Obwohl eine fortschreitende Parkinson-Erkrankung seinen Strich zittrig gemacht hat, entfalten seine Linien auf blankem Papier starken Ausdruck.
Ab 1980 bis in die 1990er Jahre malt Schurtenberger in seinem ländlichen Refugium zahlreiche Ölbilder – oft unter freiem Himmel. Stets unbetitelt variiert diese Feiluftmalerei paradoxerweise das Motiv städtischer Halbwelt-Gestalten. Von lasziv sich räkelnden Prostituierten bis hin zu Stadtoriginalen, die Schurtenberger bei sporadischen Besuchen in Luzerner Lokalen und Kaffeehäusern trifft. Nach und nach gelingt es ihm in Luzern einen kleinen aber treuen Kreis von Mäzenen und Sammlern zu gewinnen. Dazu gehört der Bauunternehmer und Kunstförderer Gottfried Anliker ebenso wie der damalige Direktor des Kunstmuseums Luzern, Peter F. Althaus. Inzwischen herrscht ein für figurative Malerei äusserst empfängliches Klima. Die Ölmalerei der italienischen Transavanguardia und die Neue Heftige Malerei um Künstler wie Rainer Fetting oder Elvira Bach sind gefragt. Dennoch zieht sich Schurtenberger mehr und mehr in eine Gegenwelt zurück, malt immer weniger im Freien, seltener auf Leinwand. Schliesslich gibt er die Ölmalerei vollständig auf. Die Tempera-Zeichnung bleibt bis zum Schluss sein bevorzugtes Medium. Die bunten Zeichnungen der Nullerjahre spiegeln sein Innenleben, persönliche Erinnerungen und Phantasien. Darin zeigt sich ein humorvoller Umgang mit Geschlechterrollen sowie dem Topos des Künstlers. An Kinderzeichnungen erinnernd stellen sie sich gegen bürgerliche Kunst- und Normbegriffe, denen sich Schurtenberger selbst längst entzogen hat.
Gabrielle Schaad