Dieter Roth (eigentlich Karl-Dietrich Roth; auch "Dieter Rot" oder "Diter Rot") kommt am 21. April 1930 als erster von drei Söhnen einer deutschen Mutter und eines Schweizer Vaters in Hannover zur Welt. Im Alter von 13 Jahren kommt er in die Schweiz. In dieser Zeit datieren erste künstlerische Arbeiten wie Zeichnungen, Pastellbilder und Gedichte. Nach einer Grafikerlehre in Bern arbeitet er unter anderem als Textilzeichner, als Möbelgestalter und als Werbegrafiker. Roth ist ein Künstler (fast) aller Gattungen: zu Beginn der 1950er Jahre entstehen literarische Arbeiten, von denen die wichtigsten der "konkreten Poesie" zuzuordnen sind, mit welcher Roth insbesondere durch die Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Eugen Gomringer für die Zeitschrift "spirale" in Berührung kommt. Roth entwickelt darauf in Auseinandersetzung mit der konkreten eine "visuelle Poesie", die vom genuin sprachlichen Ausdruck zur Zeichnung hin tendiert. Ausserdem schafft Roth unzählige druckgrafische Werke und beginnt dann ab Mitte der 60er Jahre – nach der Bekanntschaft mit Künstlern der "Fluxus"-Bewegung – mit Lebensmitteln und anderen verderblichen Produkten zu arbeiten (vgl. KML 536w sowie KML 87.70w, "Gewürzfenster"). Allgemein lässt sich in Roths Schaffen zu dieser Zeit eine Abwendung von einer stark geometrisch orientierten Konkreten Kunst, mit der er sich seit seinen Lehrjahren auseinandersetzt, eine Befreiung von formalen und sprachlichen Konventionen und eine Hinwendung zum Beiläufigen, Unspektakulären und Zufälligen ausmachen.
Die Verwendung von organischen, sich zersetzenden Materialien sowie das Herausstreichen des Kontingenten kann als künstlerische Strategie verstanden werden, welche auf die Desavouierung eines romantischen Kunst- und Künstlerbegriffs abzielt. Anstelle von exklusiven Einzelbildern schafft Roth nun vermehrt Bildserien und -sequenzen. Er fasst einzelne Zeichnungen zu grossen Konvoluten zusammen, wobei er teilweise statt der Originalzeichnungen Fotokopien derselben gebraucht. Insbesondere ab etwa 1970 entstehen viele Werke, die sich in der Folge zu Langzeitprojekten weiterentwickeln werden: Mit "Flacher Abfall" (1975-76, 1992) setzt sich Roths Verarbeitung von aus traditioneller Sicht "minderwertigen" Materialien fort. Ab 1973 beschäftigt sich Roth auch mit experimenteller Musik, dokumentiert die Häuser einer ganzen Stadt mit der Fotokamera ("Reykiavik Slides", 1973-75, 1990-93) und beginnt, vermehrt mit Künstlerkollegen und Familienmitgliedern zusammenzuarbeiten (u.a. Richard Hamilton, Arnulf Rainer, Ingrid Wiener, Vera und Björn Roth).
Die Vielfalt der künstlerischen Techniken und die fast unüberschaubare Grösse des Oeuvres verbieten es, Roths Werk als Gesamtes auf einen Nenner zu bringen, freilich aber lassen sich einige Konstanten im Rothschen Schaffen ausmachen. Das Zeichnen und das Schreiben sind zentrale Ausdrucksweisen Roths, wobei im zeichnerischen Werk häufig das Verhältnis von Textuellem und Bildhaftem befragt wird. Oft stehen Text und Bild gleichwertig nebeneinander. Weder ist die Zeichnung blosse Illustration des Geschriebenen, noch dient der Text der Entschlüsselung der Zeichnung (vgl. z.B. KML 83.6:1-80y, "Zeichnungen zu den 'Scheisse'-Gedichten"). Eine zunehmende Hinwendung zum Privaten wird vor allem in Auseinandersetzung mit der traditionellen Gattung "Porträt" manifest, als Reflexion auf das eigene (Ab-)Bild in zahlreichen Selbstbildnissen (vgl. Inv. Nr. 82.19z, "Selbstbild als Selbstbild haltender Löwe"). Das nomadische Leben – Roth wechselt häufig seinen Wohnsitz und unterhält bisweilen Ateliers an verschiedenen Orten gleichzeitig – beeinflusst sein künstlerisches Vorgehen: das Sammeln, das Schichten, das Weiter- und Umarbeiten prägen den Grossteil von Roths Arbeiten. Die Thematisierung der Beziehung von Prozessualem und Momentan-Flüchtigem wie auch die Gegenüberstellung von Schöpfung und Zerfall, z.B. die Installationen "Selbstturm/Löwenturm" (1968-89), Basel, und "Schimmelmuseum" (ab Anfang 90er Jahre, Hamburg), sind weitere wichtige Aspekte des Rothschen Schaffens.
Obschon Roth sich selbst in erster Linie als Schriftsteller versteht, ist er zeitlebens vornehmlich als bildender Künstler bekannt. Nach ersten Gruppenausstellungen ab Mitte der 50er-Jahre in der Schweiz (u.a. Bern, Kunsthalle), folgen ab 1960 viele Einzelausstellungen, zunächst in Kopenhagen, Philadelphia und Köln. 1982 wird im Schweizer Pavillon der Kunstbiennale Venedig das aus über 350 Filmbändern bestehende Werk "Ein Tagebuch" gezeigt.
Dieter Roth stirbt am 5. Juni 1998 in Basel.
Isabel Fluri
Jaunin, Françoise, Schweizer Alpen. 500 Jahre Malerei, Vevey: Mondo Verlag, 2004.
Basel, Schaulager (Ausst.-Kat.), Roth Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, hrsg. von Theodora Vischer und Bernadette Walter, mit Texten von Dirk Dobke und Bernadette Walter, Baden: Lars Müller, 2003.
Dieter Roth, Dieter Roth: Druckgraphik. Catalogue raisonné 1946-1998, bearbeitet von Dirk Dobke, London: Ed. Hansjörg Mayer, 2003
Rot, Dieter. Gesammelte Interviews, hrsg. von Barbara Wien, London: Edition Hansjörg Mayer, 2002
Stuttgart, Staatsgalerie (Ausst.-Kat.), Dieter Roth. Die Haut der Welt, hrsg. von Ina Conzen, mit Texten von Ina Conzen und Andreas Schalhorn, Köln: Walther König, 2000
Loock, Ulrich, "Nach Willisau macht die "Landpartie" des Kunstmuseums Luzern Zwischenhalt in Schüpfheim", in: Willisauer Bote, 29. Oktober, 1998, S. 15
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Landpartie - Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern auf Reisen im Kanton, mit Texten von Jean-Christophe Ammann, Theo Kneubühler, Ulrich Loock und André Rogger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1998
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