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Werkbeschrieb
Mit ruhigem, unbewegtem Gesichtsausdruck und leeren halb geschlossenen Augen neigt die Venus ihren Kopf in einer sanften Bewegung zur Seite. Diese Verbindung von statischem Ausdruck mit Leben einflössender leichter Bewegung ist äusserst charakteristisch für Maillols Arbeiten und verleiht der Figur eine geheimnisvolle Ausstrahlung. Die Gesichtszüge der Venus sind idealisiert: die Nase ist gerade und lang, die Lippen elegant geschwungen, die Augenbrauen kantig und fein, das Kinn stark gerundet und die Backen voll. Die Haare erfahren eine ausgeprägte Stilisierung, so dass sie auf den ersten Blick auch als Kopfbedeckung wahrgenommen werden könnten. Sie sind wie bei vielen von Maillols Figuren am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden, rahmen das Gesicht jedoch auf ungewöhnliche Weise ein. Die unregelmässigen Fransen mit den wilden Löckchen verleihen dem Gesicht trotz seines Ernstes eine jugendliche Frische, und mit dem Titel „Büste der Venus mit Fransen“ lenkt Maillol den Fokus des Betrachters auf dieses Element. Die Bezeichnung als Venus ist insofern erstaunlich, als jegliche Attribute, welche mit der Venus in Verbindung gebracht werden, fehlen.
Die Schultern der Venus stehen dem Betrachter nicht symmetrisch und frontal gegenüber, sondern befinden sich wie der Kopf in einer leichten Bewegung, bei welcher die linke Schulter tiefer gesenkt ist als die rechte. Der Büstenausschnitt deutet den Brustansatz an, was dem Betrachter den fragmentarischen Charakter der Büste vor Augen führt und die Vorstellung von einem sich fortsetzenden Körper nahe legt. Mit dieser Bewegung der Schultern und der gleichzeitigen Begrenzung erzeugt Maillol eine grosse Spannung, denn die Bewegung des gezeigten Körperfragmentes wird von der Brustkante abrupt unterbrochen. Die Büstenkante erhält aufgrund ihrer ungewohnten Höhe eine auffallende Präsenz und nimmt die Stellung einer Plinte ein, auf der die Büste thronend präsentiert wird.
Maillols Figuren sind in der Regel in sechs nummerierten Exemplaren und zwei zusätzlichen Künstlerversionen, die speziell gekennzeichnet werden, gegossen. Viele Werke stammen aus der Giesserei von Claude Valsuani oder Alexis und Georges Rudier, aber auch Bingen et Constenoble oder Florentin und Emil Godard erhielten Giessaufträge. Die Venus des Kunstmuseums Luzern wurde von Alexis Rudier gegossen und unter ihrer rechten Schulter bezeichnet. Irritierenderweise handelt es sich um die Nummer 9, ohne Angabe der Gesamtauflage.
Die „Venus mit den Fransen“ fand ihren Weg ins Kunstmuseum Luzern über den Kunstsammler Baron Eduard von der Heydt, der während des Zweiten Weltkrieges wertvolle Objekte zum Schutz in die Obhut des Museums gab. Nach dem Krieg schenkte er dem Museum Maillols Venus aus Dankbarkeit für die Betreuung. Von der Heydt vermachte seine grosse Gemäldesammlung dem Städtischen Museum Wuppertal, welches heute den Namen Von der Heydt-Museum trägt, und die sehr bedeutende Sammlung asiatischer Kunst schenkte er dem Museum Rietberg in Zürich.
Seraina Werthemann
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Schenkung "als Ausdruck des Dankes für die sorgfältige Betreuung verschiedener, wertvoller Leihgaben ausländischer Kunst während den Kriegsjahren." Vgl. Wuppertal 2002
Eingangsjahr:1946
Provenienz/ Provenance
Baron Eduard von der Heydt, Ascona, 1933/34
Alfred Flechtheim
Bibliografische Referenz/ Bibliographical References
• Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin/Boston 2008.
• Esther Tisa Francini/Anja Heuss/Georg Kreis. Fluchtgut-Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933.1945 und die Frage der Restitution, Zürich 2016.
• (Ausst.-Kat.),ldorf/Berlin, Imaginationen. Von Ruysdael bis Manet, Chagall, Kandinsky. Zum 100-jährigen Jubiläum, hrsg. von Sabine Fehlmann, Wuppertal: Von der Heydt-Museum, 2002
• Alfred Flechheim.com
Unmittelbare Quellen (Dokumente mit unmittelbarem Bezug zum Objekt)/ Primary Sources
• Briefwechsel Galerie Alfred Flechtheim mit Otto Fischer, Direktor Kunstmuseum Basel
• Briefwechsel Eduard von der Heydt mit Otto Fischer, Direktor Kunstmuseum Basel, Dokument im Stadtarchiv Zürich, VBc 33, 2.2. Leihgaben, Basel
Weitere konsultierte Quellen/ Further sources
• Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, Berlin
• Cultural Plunder by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg: Database of Art Objects at the Jeu de Paume
• Database “Central Collecting Point München” Database “Kunstsammlung Hermann Göring”
• Getty Provenance Index, German Sales Catalogs
• Lootedart.com Lost Art
• Répertoire des Biens Spoliés
• Verzeichnis national wertvoller Kunstwerke (“Reichsliste von 1938”)
Zusammenfassung/ Conclusion
Erste Informationen zur Venusbüste erhielt Christoph Lichtin, der ehemalige Sammlungekonservator, bereits 2009, als er von Esther Tisa vom Museum Rietberg auf die Herkunft der Büste aufmerksam gemacht wurde. Frau Tisa befasste sich damals mit der Aufarbeitung der Sammlung des Museums Rietberg aus der Schenkung Eduard von der Heydt. Dabei stiess sie auf Unterlagen zu unserer Venusbüste, die sie uns als Kopie zustellte. Daraus liess sich entnehmen, dass die Büste 1939 vom Kunstmuseum Basel ins Kunstmuseum Luzern kam. Die Büste verblieb als Leihgabe im Kunstmuseum Luzern und gelangte 1946 als Schenkung von Eduard von der Heydt endgültig in unsere Sammlung. Von der Heydt erklärte die Schenkung "als Ausdruck des Dankes für die sorgfältige Betreuung verschiedener, wertvoller Leihgaben ausländischer Kunst während den Kriegsjahren."
Wie im Brief von Herrn von der Heydt an Herrn Fischer, den Direktor des Kunstmuseums Basel , im Jahr 1934 schreibt, ist «die Bronze von Maillol des Herrn Alfred Flechtheim, über die wir vor einiger Zeit korrespondierten, […] definitiv in den Besitz der von der Heydt’s Bank . V., Zandvoort, übergegangen. Herr Flechtheim hat auf seine Ansprüche verzichtet.» Von der Heydt beliess die Bronze auf weiteres in der Kunstsammlung Basel in der Hoffnung, dass dieses die Bronze «letzten Endes doch kaufen könne».
Eduard von der Heydt gewährte als Bankier mehreren Personen, auch im Bereich Kunsthandel, Kredite, gerade auch in der schwierigen Zeit Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre.
Auf die Nachfrage beim Kunstmuseum Basel erhielten wir die Korrespondenz der Galerie Alfred Flechtheim mit dem Kunstmuseum Basel aus dem Jahr 1933. Darin bittet Flechtheim in mehreren Schreiben mit zunehmender Dringlichkeit Herrn Fischer darum, sich doch bitte über den vorgesehenen Ankauf seiner Venusbüste von Maillol einig zu werden, welche sich bereits als Leihgabe im Kunstmuseum Basel befand. In einem Schreiben von Herrn von der Heydt an Herrn Fischer im September desselben Jahres erklärt von der Heydt, dass Herr Flechtheim «zwecks Auflösung seines hiesigen Geschäftes dringend einen kleinen Kredit braucht. Er sagte mir, dass er eine Bronze von Maillol, den Kopf der Venus darstellend, an sie verkauft hätte […] ». Aufgrund dessen forderte von der Heydt das Museum die Zahlung an ihn und nicht an Herrn Flechtheim zu tätigen. «Unter dieser Bedingung würde ich Herrn Flechtheim gern den Gefallen erweisen.»
Der Entscheid des Museums war jedoch immer noch hängig. Jedoch erwartete Herr Fischer bei einem allfälligen Kauf der Büste eine direkte Mitteilung von Herrn Alfred Flechtheim, die bestätigt, dass diesem das Geld auch tatsächlich durch Herrn von der Heydt vorgestreckt wurde. Drei Tage später bestätigte Herr Flechtheim die Aussage von Eduard von der Heydt, indem er das Kunstmuseum Basel bittet den Betrag 2500.- R.M. bei einem allfälligen Kauf, zur Verfügung des Herrn von der Heydt zu stellen. Der Verkauf kam nicht zustande. Dennoch zeigt der Schriftentausch aus dem Jahr 1933, dass Flechtheim bereits zu Beginn des Jahres diesen Preis von 2500.- R.M. forderte und dass er den Ablauf des Geschäftes über von der Heydt absegnete.
Die Büste ist aktuell Gegenstand weitere Abklärungen.
Ausstellungsgeschichte
Hauptwerke der Museen Winterthur und Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 03.03.1940 - 31.12.1940
Imaginationen. Von Ruysdael bis Manet, Chagall, Kandinsky. Zum 100-jährigen Jubiläum, Wuppertal, Von der Heydt-Museum, 22.09.2002 - 12.01.2003
PROJEKT SAMMLUNG. Meisterwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 26.06.1994 - 11.09.1994
Ergriffenheit – Werke aus der Sammlung von Hodler bis Henning, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 11.06.2005 - 13.11.2005
Figuren und Porträts von Hans Holbein bis Ugo Rondinone aus der Sammlung, Kunstmuseum Luzern
Von Buddha bis Picasso. Der Sammler Eduard von der Heydt, Zürich, Museum Rietberg, 19.04.2013 - 18.08.2013
Aus der Sammlung: Männer und Frauen
Literatur
Wuppertal, Von der Heydt-Museum (Ausst.-Kat.), Imaginationen. Von Ruysdael bis Manet, Chagall, Kandinsky. Zum 100-jährigen Jubiläum, hrsg. von Sabine Fehlmann, Wuppertal: Von der Heydt-Museum, 2002
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983
Reinle, Adolf, Das Luzerner Kunstmuseum. Ein Führer durch die Sammlung, hrsg. vom Stadtarchiv Luzern und einer vom Stadtrat bestellten Kommission, Luzern: Kommissionsverlag Eugen Haag, 1958
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Die Hauptwerke der Museen Winterthur und Luzern, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1940