Seit seinem ersten Aufenthalt in New York 1981 beschäftigt sich Martin Disler intensiv mit der Technik der Radierung. Für seine in der Folge in grosser Zahl entstehenden Druckgrafiken arbeitet er mit namhaften Kupferdruckern, wie Aldo Crommelynck in Paris, Peter Kneubühler in Zürich oder Kurt Zein in Wien, zusammen. In ihren Ateliers experimentiert er mit allen möglichen Tiefdrucktechniken, die ihm ein ebenso breites Ausdrucksspektrum bieten wie die verschiedenen Zeichenmedien.
Die Aquatinta-Arbeit mit der Bezeichnung "Gravure S" präsentiert sich gewissermassen als Mittelding zwischen dynamischer, abstrakt-flächiger Komposition und figural ausgestattetem Bildraum. Auffällig ist die sehr schwungvoll wirkende, fast "malerische" wahrscheinlich mit Hilfe eines Schabeisens vollführte Bearbeitung der Kupferplatte. Was auf den ersten Blick wie ein rhythmisch bewegtes Nebeneinander von Flächen und Schraffuren erscheint, zeigt bei eingehender Betrachtung mehrere Menschenköpfe, Körperteile und weitere Objekte. Das prominent in der Mitte oben dargestellte Menschengesicht ist das am ehesten identifizierbare Motiv und dominiert mithin die Szene. Der Vergleich mit Porträtabbildungen des Künstlers und mit anderen, als "Selbstbildnis" bezeichneten Arbeiten lässt vermuten, dass es sich bei diesem Gesicht gleichfalls um ein Selbstporträt handelt. Ein Arm, der weit in die rechte Hälfte des Blattes hineinragt, scheint zu dieser Figur zu gehören, ebenso wie der Torso, der unterhalb des Kopfes rechts angedeutet ist. Weiter sind auf der Grafik ein kelchförmiges Trinkgefäss, wie es in der Liturgie verwendet wird, Teile eines Frauenoberkörpers, eine Hand, die den Gestus des Armes links leicht verändert aufnimmt und nach einer Art Horninstrument greift, sowie mehrere andere Gesichter zu sehen. Doch trotz des Umstands, dass hier einige wiedererkennbare Motive präsentiert werden, fügen sich diese schwerlich zu einer kohärenten Szene zusammen. So bleiben die Dynamik und die Kräfte, die durch die Komposition der Flächen zu wirken scheinen, die wesentlichen Aspekte der Arbeit.
Wie auch in Dislers Arbeit "Killing of a pregnant woman" (KML GH 88.58x) wird in vorliegender Druckgrafik das Verhältnis zwischen Figur und Raum befragt: Der Bildhintergrund, sei er nun hell oder dunkel, ist keine bloss passive "Grundierung", vor der sich irgendeine Szenerie abspielt, sondern bedrohliche Kraft, die in die Gestalt der Figuren eindringt und diese zu verschlucken oder aufzulösen droht. Die nur partiell auszumachenden menschlichen Kreaturen illustrieren folglich weniger eine Geschichte; ihrer physischen Integrität verlustig geworden, lassen sie sich eher als eine Art in Körperteilen und Gesichtern materialisierter Affekt betrachten. Wie auch ein klar auszumachendes "Sujet" scheint in Dislers Radierung das menschliche Subjekt zur fragwürdigen Grösse zu werden.
Isabel Fluri