Im Œuvre James Lee Byars’ finden sich zahlreiche Platten aus Marmor, einige davon sind im Besitz des Kunstmuseums Luzern. Die formal einfachen, viereckigen Platten aus weissem, schwarzem oder rosafarbenem Marmor enthalten eingravierte und vergoldete Druckbuchstaben. Diese können ganze oder fragmentierte Sätze, bisweilen auch nur einzelne Worte bilden, die sogar als Abkürzung gelesen werden müssen. Beispiele dafür bieten etwa die Werke „DIM“ (KML 2009.36w) für 'Dimension' oder „BELI“ für 'Believe'.
Byars’ Skulpturen mögen sich auf den ersten Blick formal am Minimalismus, mit seiner typischen Reduktion auf einfache, abstrakte, meist geometrische Grundstrukturen orientieren. Allerdings fehlt ihnen die serielle Produktionsweise, zugleich unterscheiden sie sich durch den verwendeten Werkstoff und die Beschriftung der Platte. Eine direkte Referenz ist zu den Bauwerken und Plastiken auszumachen, die seit der Antike Marmor als Hauptmaterial verwenden. In der Renaissance dient das edle Gestein als Werkstoff für die bedeutendsten Skulpturen der Zeit wie etwa jene von Michelangelo oder Gian Lorenzo Bernini, und für Bauten von Leon Battista Alberti, Andrea Palladio oder Donato Bramante. Die Architekten der Renaissance orientierten sich bei den Grundrissen ihrer Gebäude an einfachen idealen geometrischen Formen wie dem Quadrat oder dem Kreis. Zusammen mit der Gravur erinnern Byars’ Marmorplatten an Architekturfragmente. Weiter wecken sie Assoziationen zu Grabplatten und deren Inschriften. Byars’ Beschäftigung mit dem Tod, dem Aspekt der Zeit und der Vergänglichkeit – begonnen 1975 mit der Arbeit „The perfect epitaph“, als er in Bern eine Kugel aus rotem Lavastein durch die Strassen rollt – zeichnet sich im Lauf der Jahre in mehreren Werken und Werkgruppen ab.
Trotz der Beschriftung in sehr kleinen goldenen und nur von Nahem leserlichen Druckbuchstaben scheinen die Marmorplatten wie viele der Werke Byars’ rätselhaft. Die Buchstaben, die Wörter oder die kurzen Sätze sind als Statements des Künstlers, die teilweise auch Allgemeingültigkeit besitzen, zu lesen. Eine endgültige Deutung ist jedoch nicht möglich. Byars ist überzeugt, dass Fragen wichtiger als Antworten sind und formuliert den Anspruch einer 'fragenden Philosophie', indem er anhand seiner Werke Fragen mit Fragen zu lösen versucht. Im Gespräch mit Joachim Sartorius äussert sich Byars 1995 dazu folgendermassen: „Ich denke, dass ich, durch das Anhängen eines Fragezeichens an eine Aussage, diese Aussage mit Leben erfülle und sie in den Bereich der Kunst oder der Poesie rücke.“ Die Frage dient Byars als Grundprinzip für seine künstlerische Arbeit und bedeutet letztlich für ihn Kommunikation. Seine Aktionen stehen im Kontext der sogenannten Sprechakttheorie, die für die Kunst der 1960er Jahre, wie die Performance oder Body Art von grosser Bedeutung ist. Gemäss dieser Theorie werden anhand sprachlicher Äusserungen nicht nur Sachverhalte beschrieben oder Behauptungen aufgestellt, sondern sie vollziehen zugleich selbst Handlungen und verändern die Realität ebenso aktiv. Byars’ Aktionen und Skulpturen machen Feststellungen, stellen Fragen, geben Befehle und Versprechen. In den einzelnen Worten oder kurzen Sätzen offenbart sich gleichzeitig Byars’ Streben, eine Aussage oder eine Überzeugung in der kürzest möglichen Form wiederzugeben. (Vgl. KML 2009.65y) Bei „BELI“ und „DIM“ beispielsweise geht er so weit, die Worte nur noch als Abkürzung darzustellen und überlässt es somit dem Betrachter, der Betrachterin diese zu vervollständigen und insofern auch deren Bedeutung zu eruieren.
Patrizia Keller