James Lee Byars wird am 10. April 1932 in Detroit geboren, wo er Kunst, Psychologie und Philosophie an der Wayne State University studiert. Die Arbeiten, die er während seiner Ausbildung schafft, halten trotz ihres Studiencharakters bereits das Ziel seines Schaffens vor Augen. Um 1957 verlässt er seine Heimatstadt und reist zwischen 1958 und 1967 wiederholt nach Japan. Er beginnt alte Kunsttraditionen wie die japanische Tuschmalerei und die Papierkunst zu erlernen, um die klassischen Gattungsgrenzen zwischen Skulptur und Malerei zu überwinden. Hier entwickelt er auch die Vorstellung von sich auflösenden und verschwindenden Werken. So schafft er in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren vor allem grossformatige, schwarze Tuschzeichnungen auf Papier oder 'performative Skulpturen' aus hunderten Blättern von japanischem Flachs- oder Kozopapier. 1958 findet seine 'erste Ausstellung' im Notausgangtreppenhaus des Museum of Modern Art in New York statt. Die Kuratorin des Museums Dorothy Miller hatte ihm erlaubt, für einen Abend einige seiner Papierskulpturen im Fluchttreppenhaus des Museums zu präsentieren. Die Ausstellung dauert angeblich nur einige Stunden und die verkauften Werke werden noch in derselben Nacht ausgeliefert. Nach seiner endgültigen Rückkehr aus Japan lebt Byars abwechselnd in New York, Venedig, Florenz, Bern und Santa Fe.
Anfangs der 1960er Jahre bewegt er sich im Umfeld von Fluxus und Konzept-Kunst und arbeitet als Assistent des Fluxus-Künstlers La Monte Young. Sein Interesse liegt beim kommunikativen, weltumspannenden und vernetzenden Element des Fluxus. Byars führt verschiedene Performances auf, die er selbst als 'Plays' (vgl. KML 2006.40q) bezeichnet. Verschiedene Aktionen finden beinahe unbemerkt in der Öffentlichkeit statt, indem er beispielsweise kleine beschriftete Zettelchen verteilt. Dies ermöglicht ihm, ausserhalb der Institutionen symbolische Gemeinschaften herzustellen und rituelle Handlungen zu initiieren. Generell ist es Byars’ erklärtes Ziel, das Publikum an der Kunst als gesellschaftspolitische Kraft teilhaben zu lassen. In anderen Aktionen bleibt Byars im Hintergrund und führt Regie, wie bei den Gemeinschaftskostümen ab Mitte der 1960er Jahre, in die mehrere Personen eingehüllt werden. Diese sind im Kontext der shintoistisch inspirierten Origami- und Stoffobjekte, die er zu jener Zeit kreiert, anzusiedeln. Ende der 1960er Jahre hat Byars zu seinem eigenen künstlerischen Stil gefunden. Seine Faszination für das Immaterielle und den Augenblick offenbart sich in den Performances, die zum Teil nur aus einer minimalen Handlung oder Geste bestehen können. Hat er anfangs das Publikum aktiv in seine Aktionskunst einbezogen, so sucht er nun einen eher indirekten Kontakt. Konkrete Objekte schafft er kaum. Die 'Frage' (so nennt Byars seine Entdeckung) oder das Stellen von Fragen steht im Zentrum seines Schaffens und dient ihm als Ausgangspunkt für den Kontakt mit dem Publikum. Diese Phase wird schliesslich durch ein neues grundlegendes Interesse am Konzept des Perfekten verdrängt. In der Form der Kugel und teilweise im Kreis findet Byars dies widerspiegelt. Alles ist golden und rund – 'perfekt' wird zu einem Leitmotiv und erscheint folgerichtig in mehreren Werktiteln.
Seit den frühen 1970er Jahren ist James Lee Byars auf jedem grösseren Kunstereignis präsent: auf der documenta in Kassel, der Biennale in Venedig oder auf anderen richtunggebenden Ausstellungen zeitgenössischer Tendenzen. Diese Jahre, in denen er ständig zwischen Europa und den USA hin und her pendelt, gelten als Byars’ künstlerischer Höhepunkt. Trotz der Auftrittsmöglichkeiten auch während der 1980er Jahre ist Byars’ Präsenz nie mehr so intensiv wie während der 1970er Jahre. 1994 erhält er im Kölner Museum Ludwig den „Wolfgang-Hahn-Preis“ und übereignet dem Museum „The Perfect Smile“, womit erstmals eine Performance Teil einer Sammlung wird. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens distanziert er sich von den meisten seiner frühen Werke, wie beispielsweise seinen Tuschzeichnungen.
Am 23. Mai 1997 stirbt James Lee Byars in Kairo, wo er auf dem Soldatenfriedhof bestattet wird. Er gilt als wichtiger Impulsgeber für die heutige Kunstszene, u.a. für Matthew Barney, Gregor Schneider, Vanessa Beecroft oder auch für Filmemacher wie Stanley Kubrick.
Während das Interesse an Byars in den USA und ausserhalb des deutschen Sprachraums bis zu seinem Tod und darüber hinaus marginal bleibt – zu Lebzeiten Byars’ wird in keinem amerikanischen Museum eine grosse Ausstellung mit seinen Werken organisiert – findet der Künstler in Bern durch Harald Szeemann frühe Anerkennung. Als weiterer wichtiger Förderer gilt der Berner Galerist Toni Gerber, in dessen Wohnung an der Gerechtigkeitsgasse 74 Byars diverse Happenings und Performances aufführt. Zwischen 1975 und 1978 widmet Gerber dem Künstler drei Einzelausstellungen, unter anderem 1975 „The First Letter Show“ – eine Gesamtinstallation unterschiedlichster Papierarbeiten. Die vergleichsweise grosse Popularität von Byars insbesondere Mitte der 1970er Jahre in Europa widerspiegelt die Entwicklung der 1980er Jahre, als New York zwar weiterhin als wichtiges, jedoch nicht mehr als einziges Zentrum der Kunstszene gilt. Zudem bedeutet Amerika für Byars, wie für zahlreiche andere Kunstschaffende zu jener Zeit, kommerzielle Oberflächlichkeit, zu der er als Künstler keinen Beitrag leisten möchte.
James Lee Byars’ Werk als Synthese von orientalischen Praktiken, Konzeptkunst, Minimalismus und Fluxus, sowie Aspekten aus Happening, Body Art und der Installationskunst ist einzigartig. Mit Ausnahme der Malerei bedient er sich aller künstlerischen Medien und Gattungen. Charakteristisch für sein Schaffen ist es, die Unterscheidung einzelner Kunstgattungen aufzulösen und eine Performance zu einer Ausstellung werden zu lassen, einen Brief für eine Performance zu verwenden oder als permanente Installation zu präsentieren. Seine Liebe für Imaginäres, Flüchtiges, für Angedeutetes offenbart sich in seiner Kunst, die weit entfernt ist von einem Werkbegriff, der auf einfache handel-, sammel- und abbildbare Kunstprodukte fokussiert. Sein ganzes Leben versteht er als Kunst, jeder Brief ist ein Kunstwerk, jede Begegnung eine Performance. Die existenziellen Fragestellungen um Leben, Liebe und Tod wiederholt er stetig und formuliert sie neu. Die Inszenierung seiner selbst – eines der Kernkonzepte der Moderne – ist durchgehendes und zentrales Thema in seinem Werk. Er zeigt sich in Samt und Seide oder in Glitzerstoffe, vollkommen in Rot, Rosarot, Weiss, Schwarz oder Gold verhüllt, mit Hut und einer Augenbinde. Seine Art sich zu kleiden, beruft sich einerseits auf den stilistischen Einfluss der Shinto-Priester, widerspiegelt aber andererseits auch seinen Wunsch, nicht als Individuum begriffen und somit auf die eigene Geschichte und den Körper begrenzt zu werden. Durch den vermehrten Gebrauch von beständigem Material ab Mitte der 1970er Jahre entwickelt er auch Werke, die den Moment überdauern. Mit den nunmehr 'traditionellen' Skulpturen sowie den dafür verwendeten Materialien wie Marmor oder Sandstein nimmt Byars geradezu eine 'archetypische' Künstlerposition ein. Er selbst umschreibt seine Kunst einmal folgendermassen: „Ich schaffe Atmosphären.“ Indem er primär das Flüchtige bevorzugt, versucht er nach wie vor, sich der kommerziellen Seite der Kunst zu entziehen. Selbst wenn er Objekte schafft, ist sein Œuvre doch mehrheitlich vom Geistigen und Ephemeren bestimmt.
Patrizia Keller
Bern, Kunstmuseum Bern (Ausst.-Kat.), Im Full of Byars. James Lee Byars. Eine Hommage, Susanne Friedli, Matthias Frehner, Bielefeld, Leibzig: Kerber Verlag, 2008
Frankfurt, Schirn Kunsthalle (Ausst.-Kat.), James Lee Byars. Leben, Liebe und Tod, hrsg. von Klaus Ottmann, Max Hollein, mit Texten von Klaus Ottmann, Martina Weinhart, und Viola Michely, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2004
Bedburg-Hau, Stiftung Museum Schloss Moyland/Sammlung van der Grinten/Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen, James Lee Byars. Briefe an Joseph Beuys, hrsg. von Stiftung Museum Schloss Moyland (et al.), mit Texten von Franz Joseph van der Grinten, Viola Michely, Ostfildern: Hatje Cantz, 2000
Michely, Viola Maria, Glück in der Kunst? Das Werk von James Lee Byars, Berlin: Reimer; Bochum: Universität, Diss., 1999
Sartorius, Joachim, "James Lee Byars im Gespräch mit Joachim Sartorius", in: Kunst Heute, Nr. 16, 1996