Die Radierung erscheint 1770 als drittes Blatt der Serie „Landschaften mit mythologischen Figuren“. Christian Ludwig von Hagedorn umschreibt das Motiv folgendermassen: „Das [Blatt] stellt auf dem Ufer eines Teiches mit herüberhangenden Bäumen umschattet, drey nackende Mädchen vor, denen eine vierte ausser dem Wasser ein Körbchen mit Obst bringt.“ Erschöpft sich die Auslegung des Motivs in dieser präzisen Umschreibung, oder gibt es Indizien, die auf weitere Dimensionen weisen? Vielleicht hat Gessner in dieser Badeszene ein wichtiges Motiv aus seiner Dichtung aufgenommen: die Erquickung des Lebens durch Schatten, Wasser und Früchte.
Im Prosastück „Mycon“ ist die Rede von einem alten Mann, der seinen Lebensabend damit zubringt, am Rand einer sonnigen Strasse zu sitzen und Reisenden Erfrischung anzubieten. Dabei stellt er sich die Frage, wie sich die Reisenden nach seinem Tod erquicken werden: „Wie, wenn ich einen kühlen Schatten von fruchtbaren Bäumen hier pflanzte, und eine kühle Quelle in diesen Schatten leitete? So erquick ich […] den Müden, und den, der an der Sonnenhitze schmachtet.“ Einen solchen Vorgang der Belebung führt Gessners Radierung vor Augen. Die Bildbetrachter können sich durch ihre Vorstellungskraft in die Landschaft hineinversetzen und auf diese Weise am belebenden Naturerlebnis teilhaben.
Die Vorstellung, dass die Betrachtung von Landschaftsbildern Naturerlebnisse kompensiert, ist im 18. Jahrhundert in der Theorie der Landschaftsmalerei verbreitet. Hagedorns Bildbeschreibung eines von Sträuchern umgebenen Brunnens, „wo der Zuschauer nur eine Grenze von schattichten Stauden siehet, und dafür die Erfrischung an diesem kühlen und angenehmen Ruheplatze durch die erregte Einbildungskraft mit geniesset“, ist hierfür ein Beispiel (in: „Betrachtungen“, Bd. 1, S. 351). Dass auch Gessner diese Vorstellung aufnimmt, belegt eine Stelle in seinem „Brief über die Landschaftsmahlerey“ (1770), wo die Wirkungen von Lorrains Landschaften mit den Wirkungen der Natur gleichgesetzt werden.
Christian Féraud