Die Radierung erscheint 1773 als Buchillustration in den „Contes moraux et Nouvelles Idylles de Diderot et Salomon Gessner“. Danach findet sie für zwei Schriften-Ausgaben Gessners Verwendung, die 1777 und 1778 publiziert werden. Sie ist in zwei Zuständen bekannt, die sich lediglich in einem Detail unterscheiden: Die Abzüge für die Publikationen von 1773 und 1777 sind mit „10“ nummeriert, die späteren Abzüge mit „88“. Auf dem Luzerner Blatt ist leider keine Nummerierung zu erkennen; seine Provenienz liegt daher im Dunkeln. Auch ist nicht bekannt, wie viele Exemplare insgesamt gedruckt werden; eine geätzte Platte lässt aber nicht mehrere Tausend Abzüge zu.
Das Motiv der Radierung nimmt Bezug auf Gessners Prosastück „Erythia“, das von der gleichnamigen Tochter des griechischen Flussgottes Eridanus handelt, die dem Gefolge der griechischen Göttin der Jagd und Keuschheit, Diana, angehört. Gessner fasst das Motiv, das sich bereits bei Hesiod findet, in ein dialogisches Erzählmodell. Als Erzähler beziehungsweise Zuhörer treten zwei Hirten auf – Myrson und Lycidas –, die sich in sommerlicher Hitze am Eingang einer kühlen Grotte aufhalten, vor deren Eingang ein Wasserfall herabfällt. Dieser Ort stellt die Verbindung her zum Schicksal der Erythia, die von Diana in eine Quelle verwandelt wird.
Nach einer Wildjagd in glühender Hitze verschafft sie sich Erythia Erfrischung an einer Quelle, wo ihr der Hirtengott Pan, der sich im Gebüsch versteckt, auflauert. Lüstern pirscht er sich an Erythia heran – um eine Haaresbreite, als „ein Rosenblatt hätt’ ausgefüllt, was zwischen ihr und seiner Hand noch war“, rettet sich Erythia, indem sie über einen Bach springt. Es beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, die an einem felsigen Abgrund abrupt endet. Hier gibt es für Erythia kein Entkommen mehr. Als sich Pan ihr bemächtigt, ruft Erythia verzweifelt Diana an und wird von der Göttin durch die Metamorphose in eine Quelle gerettet. Diese Klimax der Handlung stellt Gessners Radierung vor.
Die Kongruenz von Text und Bild weist eine weitere Dimension auf. 1769 legt Gessner in Hinblick auf die Gemeinschaftspublikation mit Diderot in einem Brief an den Verleger Friedrich Nicolai dar, dass er darum bemüht sei, seinen Figuren „die edle Simplicität des Alterthums“ zu verleihen. Die Intention dieser Antikenrezeption erschliesst sich aus einem Brief Gessners an den Illustratoren Jean-Jacques François Le Barbier. Figuren moderner Art seien für die Illustration antiker Stoffe (wie der „Erythia“) nicht geeignet, weil sie die Leser von der Zeit, in der die Handlung spiele, wegführten. Als Dichter und Illustrator in einer Person verhindert Gessner diese Entzweiung von Text und Bild.
Christian Féraud